John Ajvide Lindqvist: Im Verborgenen (Buch)

John Ajvide Lindqvist
Im Verborgenen
(Pappersväggar, 2006)
Aus dem Schwedischen von Paul Berf
Bastei-Lübbe, 2010, Taschenbch, 508 Seiten, 8,99 EUR, ISBN 978-3-404-16452-3

Gunther Barnewald

Die vorliegenden zehn Novellen beziehungsweise Kurzgeschichten des schwedischen Schriftstellers John Ajvide Lindqvist bestechen durch den prägnanten Stil des Autors und die glaubhaft gestalteten Charaktere.

Wenn dann auch noch gute Ideen dazukommen, dann ist der Vergleich zu Lindqvists Kollege Stephen King (auch wenn der schwedische Autor diesen Vergleich nicht gerne hört, wie er im Nachwort gesteht) nicht weit hergeholt, denn ähnlich wie der US-amerikanische Bestsellerautor kann auch sein schwedisches Pendant den Leser völlig in den Bann ziehen. Wie King in seinen Kurzgeschichten in den 80ern besticht Lindqvist durch eine sorgsam gestaltete Atmosphäre und Protagonisten, die unglaublich lebendig und lebensecht wirken.

Paradebeispiel hierfür ist die erste Novelle „Grenze” im vorliegenden Erzählband. Tina ist eine einsame und unzufriedene Frau, obwohl sie ihr sonderbares Talent, Angstschweiß riechen und Nervosität bei Menschen feststellen zu können, beruflich als Zollbeamtin optimal nutzen kann. Ihrer scharfen Beobachtungsgabe entgeht kein Schmuggler. Zu Hause lebt sie jedoch mit einem Mann zusammen, mit dem sie kaum Interessen teilt. Neben einigen oberflächlichen Zärtlichkeiten läuft nichts, zumal Tina noch immer Jungfrau ist. Der einzige Versuch, dies zu ändern, endete in unerträglichen Schmerzen. Erst als eines Tages ein merkwürdiger Reisender den Zoll passiert, der trotz männlichem Erscheinungsbild eine Frau zu sein scheint, und dem Tina trotz Verdacht nichts nachweisen kann, beginnt die junge Frau zu ahnen, dass sie wirklich anders ist als ihre Mitmenschen. Als der Fremde dann auch noch in eine Ferienhütte zieht, die Tina während der Sommermonate vermietet und die beiden sich näherkommen, erkennt die Zollbeamtin, dass weder er noch sie selbst zur Gattung des Menschen gehören. Aber was ist wirklich mit ihr los, und woher rührt die Operationsnarbe an ihrem Steißbein? Nach und nach entdeckt die junge Frau ein erschreckendes Geheimnis, welches ihre ganze Welt zum Einsturz bringt...

Ähnlich verstörend ist auch „Dorf auf der Anhöhe” geartet, in der ein Hochhausmieter bemerkt, dass sein Wohnhaus Eigenleben zu entwickeln scheint. Zu spät entdeckt er, dass er der letzte lebendige Mieter ist...

Stark ist auch, wie der Autor die heile Idylle eines Liebespaares, welches wie füreinander geschaffen erscheint, in „Liebe/Ewig” zerstört. Nachdem Josef fast ertrunken ist, scheint er Wahnvorstellungen zu entwickeln, denn er behauptet, den Tod für immer besiegen zu können. So verspricht er seiner Partnerin ewiges Leben. Zu spät erkennen beide, welch schrecklichen Preis dies fordert und dass gute Absichten oft der Weg zur Hölle sind, denn über die folgenden Ereignisse zerbricht das Glück beider für immer...

„Die Vertretung” verdeutlicht dagegen, dass der Autor auch ein Meister des leisen Grauens ist, welches sich langsam an den Leser heranschleicht und auch ohne blutige Effekte eine packende Atmosphäre generiert. Der Protagonist der Story trifft einen alten Schulkameraden wieder, der damals in der 6. Klasse einfach verschwunden ist. Obwohl dieser Ehemalige dem Helden eine unglaubliche Geschichte auftischt und zugibt, lange Jahre in der Psychiatrie zur Behandlung gewesen zu sein, findet er immer mehr Beweise für seine seltsamen Erlebnisse, bis auch der Protagonist (und damit der Leser) sich der Meinung anschließen muss, dass unglaubliche Dinge geschehen, welche die Welt wie wir sie kennen bedrohen und zerstören werden...

Dass die beiden kurzen Geschichte „Dich zu Musik umarmen zu dürfen” (nur drei Seiten) und Pappwände (acht Seiten) eher abfallen zeigt, dass der Autor einen gewissen literarischen „Anlauf” braucht, um die ihm eigenen Qualitäten entwickeln zu können. Beide sind nicht weiter erwähnenswert.

„Äquinoktium” ist dagegen das bedrückende Porträt einer geistig schwer erkrankten Frau, die einen aufgefundenen Toten für sich behalten will und sogar Gespräche mit ihm anfängt, während sie zu Hause bei Mann und Kindern optimal zu funktionieren scheint, bis dann doch alles aus dem Ruder läuft, denn der Tote macht sich selbstständig...

Ähnlich psychotisch wirkt auch „Sieht man nicht! Gibt es nicht!”, wenn auch nicht ganz so kohärent erzählt, so dass die Glaubwürdigkeit der Geschichte darunter leider etwas leidet.

Neben den beiden kürzesten Storys fällt leider auch die längste Erzählung des Buchs deutlich ab gegenüber den anderen sieben Beiträgen. „Die Entsorgung” leidet vor allem unter schludrig entworfenen Charakteren und einer zu Anfang eher unübersichtlichen Ausgangslage. Woher kommen die lebenden Toten und wo hat man sie gefunden? Diese Frage wird nie wirklich geklärt. Hier fällt es dem Leser schwer, sich auf die anfangs wirre Handlung einzulassen, auch wenn zum Ende hin ein geglückter Spannungsaufbau die Novelle noch vor dem endgültigen Misslingen rettet.

„Majken” ist das einzige Werk im vorliegenden Buch, welches keinen ausgeprägt phantastischen Hintergrund hat, unterhält aber dank einer gewitzten Protagonistin und einigen an den Film „Die üblichen Verdächtigen“ erinnernden Wendungen vorzüglich, denn die Geschichte der rebellischen alten Witwen, die sich über das Stadium geschickter Ladendiebe hinaus zu einer Bedrohung der Gesellschaft entwickeln, hat durchaus grimmigen Witz und Verve.

Insgesamt ist die vorliegende Kollektion kürzerer und längerer Texte eine echte Entdeckung für Fans Phantastischer Literatur. Wer Linqvist trotz seines Vampir-Romans („So finster die Nacht“) und seines Zombie-Romans („Menschenhafen“) noch nicht kennt, der sollte sich nicht davon abhalten lassen, dass die Taschenbuchausgabe außerhalb der Phantastischen Reihen bei Bastei Lübbe erscheint. Ebensowenig davon, dass man es beim Verlag nicht geschafft hat, der Ausgabe ein Inhaltsverzeichnis mitzugeben, das einzige Manko an einem ansonsten (auch optisch) gut gelungenen Taschenbuch.

Stilistisch ist John Ajvide Lindqvist auf jeden Fall ein Gewinn für das Genre, hoffentlich bleibt er der Phantastik erhalten!