Baker Street Tales 1: Sherlock Holmes und das Phantom von Charing Cross, J. J. Preyer (Buch)

Baker Street Tales 1
Sherlock Holmes und das Phantom von Charing Cross
J. J. Preyer
Hrsg.: Alisha Bionda
Titelbild und Innenillustrationen: Shikomo
Arunya, 2015, eBook, 2,99 EUR

Rezension von Elmar Huber

„Wir haben einen großen Fehler gemacht. Seinerzeit. [...] Wir haben uns von den schweren Verletzungen dieses unangenehmen Menschen beeindrucken lassen und zu wenig berücksichtigt, dass die Schlange, der man nicht den Kopf zertritt, weiterlebt, weiterplant, alles um sie herum vergiftet und Rache nehmen wird, schreckliche Rache.“

Im September 1902 hatte das Blumenmädchen Kitty Winter dem egomanischen Baron Adelbert von Gruner Gesicht und Augen mit Schwefelsäure verätzt. Außerdem hat Gruners Verlobte, Violet de Merville, aufgrund des schlüpfrigen Tagebuchs, in dem der Baron seine Eroberungen festgehalten hat, die Verlobung gelöst und ihn damit, in seinen Augen, um das Geld ihres Vaters gebracht (soweit Sir Arthur Conan Doyle: „Der illustre Klient“).

Nun, drei Jahre später, ist von Gruner nur noch von Rachegedanken erfüllt und will die Schuldigen, Kitty Winter, Holmes und Watson, für seine Misere bezahlen lassen. Violet de Meville soll, unter Einfluss von Hypnose, das Werkzeug seiner Rache sein. Da von Gruners Augen durch die Säure nahezu unbrauchbar sind, findet er mit Hilfe seines Dieners Jarvis einen anderen Weg, seine Opfer zu hypnotisieren. Er lässt Violet entführen und schickt sie nach erfolgter Hypnose mit dem Befehl los, Kitty Winter ebenfalls das Gesicht zu verätzen. Von Gruners private Rache scheint jedoch nur der erste Schritt seines Plans zu sein. Das auffällige Interesse des Barons für die Bahnstrecke Charing Cross/Hastings deutet auf eine weit größere Gefahr hin.

„Mein lieber Watson. [...] Versuchen Sie sich in einen gefährlichen Verbrecher hineinzudenken, auch wenn Ihnen das schwerfallen mag. Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Baron etwas zweifelhafter Herkunft und sehr zweifelhaften Rufs, dem man übel mitgespielt hat. [...] Überlegen wir ferner, dass von Gruner nun also etwas Geld besitzt, nicht allzu viel, doch genug, um sich zu rächen. Zuallererst an seiner ehemaligen Verlobten und der Frau, die ihm das Gesicht mit Schwefelsäure zerstört hat. Der Mann lebt an einem Bahnhof und lässt den Plan einer Bahnlinie anfertigen, und zwar jener, die zwischen London Charing Cross und dem Seebad Hastings verläuft. Überlegen Sie, geschätzter Freund, welcher Zusammenhang zwischen diesen Fakten besteht.“


Mit der vorliegenden Novelle eröffnet J. J. Preyer die Reihe „Baker Street Tales“, die unter der Herausgaberschaft von Alisha Bionda im noch jungen Arunya Verlag erscheint. Keine schlechte Wahl, hat der Autor doch schon einige sehr gelungene neue Sherlock-Holmes- sowie ähnlich gelagerte Pater-Brown-Romane auf dem Kerbholz.

Mit „Das Phantom von Charing Cross“ hat der österreichische Autor die Fortsetzung einer Originalgeschichte von Sir Arthur Conan Doyle in Angriff genommen und damit auch schon das Motiv für von Gruners Taten geliefert. Dieser fühlt sich nicht nur ungerecht behandelt und um sein angestrebtes Erbe betrogen, man hat ihn auch noch brüskiert, indem ausgerechnet Violet de Mevilles Vater das Anwesen des Barons, während dessen finanzieller Zwangslage, billig erstanden hat. Zusätzlich hat er beim ersten Zusammentreffen mit Holmes auch einen erheblichen körperlichen Schaden davongetragen und ist damit durchaus mit einem verwundeten Tier zu vergleichen.

Preyer bringt also alle Personen der Originalgeschichte, sogar Holmes’ Vertrauten Shinwell Johnson, wieder zusammen, die unversehens zu Protagonisten in von Gruners Racheplan werden.

An sich ist das sehr gut gedacht und bietet durch die Einbringung neuer Elemente genug Raum für eine adäquate Fortsetzung. Besonders Holmes’ Idee, Watson zu hypnotisieren, um damit Einblicke in von Gruners Gedankenwelt zu erhalten, ist abenteuerlich und vielversprechend.

Doch obwohl der Unterbau stimmt, knirscht es mehr als einmal im Story-Gefüge. Denn viele Kleinigkeiten, die Preyer anspricht und einbaut, tun überhaupt nichts zur Sache beziehungsweise scheinen mehr als unwahrscheinlich. So ist es schier unvorstellbar, dass selbst Lestrade nicht allein in der Lage ist, einen verschwundenen Zug zu finden, zumal Preyer den Leser schon zuvor mit der Nase auf den vorhandenen Gleisabzweig gestoßen hat. Wie nicht wenige Stolperstellen dieser Novelle hätte man dies sicher eleganter lösen können. Auch dass Watson ohne jeden Zusammenhang einen Traum erwähnt, an den er sich nicht erinnern kann, und zwei Seiten später, als Gefahr im Verzug ist, plötzlich doch, wirkt reichlich schludrig. Einige Szenen zwischen Holmes und Watson sind außerdem reichlich befremdlich geraten (zum Beispiel ‚vergisst‘ Holmes Watson in einer Kutsche) und ebenso absolut überflüssig, da sie nicht wieder aufgegriffen werden. Insgesamt hätte man die Novelle sicher noch in eine rundere Form feilen können.

„Sherlock Holmes und das Phantom von Charing Cross“ ist eine gut gedachte Fortsetzung einer Doyle-Geschichte, die mit einigen überflüssigen Stolperstellen und erheblichen Tempowechseln behaftet ist.