Justin Cronin: The Passage (Buch)

Justin Cronin
The Passage
(Deutsche Übersetzung erschienen bei Goldmann, „Der Übergang“)
Ballantine, 2010, Hardcover, 770 Seiten, ca. 13,95 EUR, ISBN 978-0-345-50496-8

Oliver Naujoks

Den aus einem Labor ausbrechenden biologischen Kampfstoff, der dann die ganze Welt entvölkert, das kennen wir. Meistgelesenes Beispiel und deshalb auch Vorbild für viele ist Stephen Kings Epos „The Stand“. Auch der mit fast 800 Seiten epische „The Passage“ von Justin Cronin kann eine Verwandtschaft zu Kings Wälzer nicht ganz leugnen, sowohl im Umfang, als auch in seinen Beschreibungen, wie sich Teile der Gesellschaft danach organisieren, und sichert sich Aufmerksamkeit als erster Genre-Versuch eines Autors, der bisher als Englisch-Dozent eher weihevolle Texte für die Feuilletonkritiker der Tageszeitungen schrieb. Ist es schon ungewöhnlich, dass ein solcher Autor dann einen voluminösen postapokalyptischen Vampir-Wälzer vorlegt, ist es noch ungewöhnlicher, dass dieser gleich die Bestsellerlisten stürmt und für einen Millionenbetrag von Ridley Scott aufgekauft wird.

Was steckt hinter „The Passage“? Das Buch ist vordergründig in ein gutes Dutzend mit Shakespeare- und Percy-Shelley-Zitaten gesäumte Abschnitte eingeteilt, gliedert sich aber eigentlich deutlich abgrenzbar in drei Akte.

Der erste, gut 200 Seiten lange Akt, spielt vor dem Ausbruch, Hauptfigur ist ein FBI-Agent namens Wolgast, der eigentlich den Geheimauftrag hat, Todeszellenkandidaten für Experimente mit diesem Virus-Kampfstoff zu gewinnen und einzusammeln. Der Kampfstoff basiert auf einem in Südamerika gefundenen Virus, der erstaunliche Heilungsqualitäten zeitigt. Im Menschenversuch allerdings verwandeln sich die Probanden dann in rasende, übermenschlich kräftige Monstren, die durch Bisse das Virus an ihre Opfer weitergeben, hier ist das Vampir-Genremotiv ‚rational’ erklärt. Während seiner Aufgabe stößt Wolgast auf die kleine sechsjährige Amy, die ein besonderes Geheimnis umfängt und an der die skrupellosen Laborbetreiber im Staatsauftrag ein besonderes Interesse verspüren. Wolgast, der selbst ein Kind verloren hat, entschließt sich um und versucht Amy zu retten. In dem Labor mit dem Kampfstoff stellt es sich als immer schwieriger heraus, die Probanden hinter verschlossenen Türen zu halten – bis es zur Katastrophe kommt.

Im zweiten Akt wird schlankerhand mal eben fast 100(!) Jahre nach dem Ausbruch in die Zukunft gesprungen und mehr als ausführlich ein trutziger Lagerkomplex geschildert, in welchem Überlebende schon mehrere Generationen der Bedrohung standgehalten haben. Das Buch beschreibt über Hunderte von Seiten hinweg die Charaktere in diesem Komplex und ihre Beziehungen zueinander.

Und bevor es zu statisch wird, beginnt der dritte und letzte Akt, in welchem eine Gruppe aus diesem Lager im Rahmen einer Mission auszieht und mehrere Abenteuer erlebt. Begleitet von Amy, die nach dieser langen Zeit immer noch lebt und inzwischen ein Teenager ist...

Die Inhaltsbeschreibung lässt es zwischendurch schon erahnen, Justin Cronin bedient sich exzessiv eines erzählerischen Mittels: Er stellt einen Charakter sehr ausführlich vor, bis man als Leser mehr als warm mit ihm geworden ist – und dann lässt er ihn über die Klinge springen oder in die Spalte des Zeitsprunges fallen. Dieses eigentlich sehr primitive Mittel (ältere Leser werden sich an James Herberts frühe Romane erinnern) wird durchaus komplex eingesetzt und auch sehr gekonnt: Charakterbeschreibungen und Nähe zu Protagonisten aufbauen, das kann Cronin hervorragend, er macht das sogar so gut, dass dem Leser kaum auffällt, dass der offensichtlich küchenpsychologisch zusammengebraute Hintergrund vieler Charaktere passgenau zu dem ersonnen wurde, was den Charakteren passiert und wie sie handeln oder zu handeln haben.

Umso größer sind die vielen Frusterlebnisse in dem Roman: Da hat man so viele Seiten mit einem Charakter verbracht, Lesergefühle investiert, und dann kratzt die Person unvermittelt ab oder geht durch den Zeitsprung verloren? Manchmal möchte man wirklich frustriert aufstöhnen, wie der Autor Charaktere ohne Not einfach wegwirft.

Es dauert eine ganze Weile, bis man diesen Ärger verdaut, in den zweiten Akt eingestiegen ist und sich an ein völlig neues Figurenarsenal gewöhnt hat. Hier verweilt der Autor doch arg lange und auch die eben beschriebenen Frusterlebnisse sind einmal mehr nicht fern. Auch wenn der Autor im Weltenbau recht geschickt verfährt und immer mal wieder eine Action-Szene einbaut, das alles ist keinesfalls unbekanntes Terrain und so dicht die Einheit von Zeit und Raum in diesem Trutz-Camp im zweiten Akt auch ist, die Handlung ist hier schon arg statisch und wenn dann im dritten Akt in eine Reiseerzählung umgeschaltet wird, wird ausufernde Länge vor allem mit Episodenhaftigkeit erzielt, wobei die Einzelepisoden für sich durchaus lesenswert sind, allerdings reichlich vertraute Genre-Motive recyceln.

Das alles liest sich allerdings besser, als es vielleicht bis jetzt hier klingt. Cronin ist ein versierter Erzähler, der besonders, wie schon angesprochen, durch lebendige Charaktere punkten kann, eigentlich das A und O eines Romans, auch wenn er diese erzählerische Stärke durch die oben beschriebenen strukturellen Eigenwilligkeiten und erheblichen Holprigkeiten unnötig relativiert. Hierher gehört auch der Einsatz von Erzählmitteln wie E-Mailverkehr, Tagebucheinträge und ähniches, die auch eher die Distanz vergrößern, anders als zu Goethe-Zeiten nicht mehr die Authentizität verstärken sollen und können, sondern die Unmittelbarkeit, was auch auf anderem stilistischem Wege möglich wäre. Ja, der Autor wollte offensichtlich die Einfachheit gradliniger Bestseller mit überschaubarem Figurenarsenal vermeiden, das verdient allerdings per se noch kein Schulterklopfen.

Mitunter gelingen Cronin allerdings fabelhafte Momente, vor allem, wenn der auktoriale Erzähler sich mal von einer Einzelszene löst und das Gesamte beschreibt, das ist teilweise schlicht hervorragend gelungen. Sympathisch auch, dass der Englisch-Dozent Cronin viele seiner Charaktere Bücher lesen und kommentieren lässt. Und in der Soldatenbehelfskaserne in einer postapokalyptschen Welt in hundert Jahren zum Abend eine Zelluloid-Kopie von Tod Brownings „Dracula“ aufführen zu lassen – das hat und ist klasse.

Wie viele Autoren streut Cronin gerade am Anfang oder Ende eines Kapitels auch gerne mal lyrische Formulierungen und Momente ein und dabei zeitigt er deutlich mehr Talent als viele seiner Kollegen; ja, man wünscht sich von solchen Passagen fast mehr, weil Cronin schön mit Sprache umgehen kann.

Genre-Freunde seien noch darauf aufmerksam gemacht, dass der Autor bewusst nicht viel erklärt, sehr wenig Fan-Service bietet (die Gewalt ist trotz des Themas und bei aller Action zurückhaltend geschildert, Erotik findet eigentlich nicht statt) und schon gar nicht Freunde rein veräußerlichter Handlung ansprechen wollte, diesen Lesern wird in „The Passage“ schlicht ‚zu wenig’ passieren. Vermutung: Aufgrund dieser Besonderheiten ist „The Passage“ wohl als Genre-Roman nicht für Genre-Leser konzipiert.

Der erste Akt, die ersten 200 Seiten, sind schlicht fabelhaft, der Rest fällt dann schon deutlich ab (kein gutes Omen für die schon angekündigten Fortsetzungen), wenn auch unter dem Strich, trotz aller ausufernden Überlänge und sich selbst im Weg stehender, holpriger erzählerischer Elemente, noch ein überdurchschnittlicher Eindruck verbleibt.