Anne Goldmann: Das größere Verbrechen (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Donnerstag, 30. Mai 2019 11:47

Anne Goldmann
Das größere Verbrechen
Argument, 2018, Taschenbuch, 236 Seiten, 13,00 EUR, ISBN 978-3-86754-234-0 (auch als eBook erhältlich)
Rezension von Irene Salzmann
Drei Frauenschicksale und drei Generationen, die nichts miteinander zu tun haben - bis auf den Umstand, dass sie sich zufällig kennenlernen und gemein haben, dass ihre Leben voller Tragödien sind und andere sie fremdbestimmt haben und immer noch fremdbestimmen wollen. Zeitweilig ergeben sie sich fatalistisch in ihr Schicksal, dann wieder begehren sie dagegen auf.
Die ältere, kranke Frau Sudić hat den Krieg überlebt, an dem das einstige Jugoslawien zerbrochen ist. Sie konnte fliehen und versuchte in den Jahren danach, die Gräuel, die sie durchleiden musste, zu vergessen und sich ein neues Leben in Deutschland aufzubauen. Nun will sie nicht länger schweigen, sondern ihre Geschichte aufschreiben, die auch die Geschichte vieler anderer ist, die Opfer dieses Kriegs wurden - und in vielen Fällen zum Verstummen gebracht wurden.
Theres, Tochter aus gutem Haus, macht genau das, was sie ihren Eltern vorwirft, indem sie ebenfalls in einer Farce lebt, die sie ‚glückliche Familie‘ nennt. Sie hat ihrem Mann seinen Seitensprung verziehen und vertraut darauf, dass er bald darüber hinwegkommen wird, dass sie als junges Mädchen einen Sohn geboren und auf Drängen der Eltern zur Adoption freigegeben hat, ein Geheimnis, das ans Licht kam, weil Jan nach ihr gesucht hat. Leider scheint er an seiner echten Mutter weniger interessiert als an dem verschollenen Vater und seiner Halbschwester Nina.
Ana ist aus dem sie erdrückenden Elternhaus ausgerissen und arbeitet als Putzfrau für Frau Sudić und Theres - die sich beide etwas später kennenlernen, weil Letztere sich ehrenamtlich um einsame und bedürftige Menschen kümmert. Die lebenslustige Ana hat gelernt, sich zu wehren und ihr eigenes Ding durchzuziehen, auch als Jan sie anbaggert und Nina sie seinetwegen nervt.
In allen drei Frauen schwelen die Dinge, die ihnen in der Vergangenheit zugefügt wurden. Während Frau Sudićs Parts in Ich-Form geschrieben sind, obwohl Theres die meisten Handlungsanteile hat, werden die Kapitel der jüngeren Frauen aus der dritten Person, wenngleich aus Sicht der Protagonistinnen geschildert. Der Grund dafür ist, dass die ältere Frau, obschon sie den anderen nicht helfen kann, durch ihre Präsenz einen gewissen Einfluss ausübt, indem sie Theres und Ana zuhört, die zwar für sie da sein wollen, aber zu jung sind, zu viele eigene Probleme haben, als dass sie den Rollen gerecht werden könnten, die sie einnehmen sollten.
Ana greift schon aktiver ein, indem sie sich mit Jan und Nina gezwungenermaßen auseinandersetzt. Allerdings zieht sie sich konsequent ganz zurück, als ihr ein Stipendium für ein Kunststudium winkt und sie jemanden kennenlernt, der sie fasziniert. Da sie sich nicht zwischen die Stühle setzen möchte, verpfeift sie Nina nicht und hält sich bei den warnenden Worten an Theres zurück. Sie möchte nicht, dass jemand über sie bestimmt und will dies auch nicht anderen antun.
Anders als Frau Sudić und Ana ist Theres noch nicht aus ihrem Käfig ausgebrochen. Sie fügt sich in alles, obwohl sie sich nur zu gern wehren möchte. Aber man lässt sie nicht einmal zu Wort kommen und drängt sie ständig, sich zurückzunehmen, Rücksicht zu üben und heikle Themen auf sich beruhen zu lassen. Durch Jan wird aufgerollt, was sie verdrängt hat. Als auch noch ein Mord passiert, kommen ihr Zweifel, ob ihre Erinnerungen und das, was andere behaupten, richtig sind. Sie trifft eine Entscheidung und handelt. Alles könnte nun gut werden, aber dann passiert Unerwartetes.
Und damit endet prompt das Buch und lässt den Leser allein mit einigen Fragen, auf die es keine erschöpfende Antworten gab, sowie einer Wendung, die so vage angedeutet wurde, dass man sie nicht erwartet hätte, fast wie ein Eingreifen von deus ex machina. Dieser Schluss ist durchaus passend, wirkt aber auch wie absichtlich anders gestaltet, damit bloß nicht die Erwartungen erfüllt werden. Und genau das ist schade, denn gewollt anders ist nicht zwangsläufig besser als ein angemessenes, schlüssig aufgebautes Ende.
„Das größere Verbrechen“ mit seinen kurzen Kapiteln und regelmäßigen Perspektivenwechseln, in denen schreckliche Vergehen, Gewalt, Schuld und die Hoffnung auf Erlösung thematisiert werden, ist fesselnd geschrieben, doch das überraschende Ende, das die drei Schicksale wieder auseinander treibt, statt sie stärker zu verweben, und eine kaum vorhersehbare Entwicklung bietet, fällt leider etwas unbefriedigend aus.