Dan Simmons: Drood (Buch)

Dan Simmons
Drood
(Drood)
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Friedrich Mader
Heyne, 2009, Hardcover, 976 Seiten, 24,95 EUR, ISBN 978-3-453- 26598-1

Armin Möhle

Mit seinem vorherigen Roman „Terror“ (Heyne, 2007/2008 als Hardcover bzw. als Taschenbuch 40613) wandte sich der US-amerikanische Autor Dan Simmons einer neuen Phase in seinem Schaffen zu: Er griff ein historisches Ereignis auf, erzählte es nach und führte es fort – und zwar ab dem Punkt, an dem die belegten Fakten endeten. Für einen Autor wie Dan Simmons, der zahlreiche herausragende SF- und Horror-Romane verfasst hat (diese aber in den Büchern, die unmittelbar vor „Terror“ erschienen sind, zumindest teilweise kopierte), ist es selbstverständlich, dass seine Fortsetzungen in das Phantastische führen.

In „Terror“ zeichnete Simmons den Weg der Franklin-Expedition nach, die von 1845 bis 1848 mit den Schiffen „Erebus“ und „Terror“ die Nordwestpassage, den Schiffsweg durch das Nordpolarmeer in den Pazifik, suchte. Die Schiffe blieben unwiderruflich im Eis stecken, während ihre Besatzungen von einem unbezwingbaren Wesen attackiert werden. Das klingt zunächst sehr simpel, doch Simmons gelingt es, einen eleganten Bogen zu der Mythologie der Inuit zu schlagen. Ein Vorläufer von „Terror“ und „Drood“ ist „Fiesta in Havanna“ (Goldmann Paperback 54126, 2000), in dem sich der Autor die Aktivitäten Ernest Hemingways auf Kuba während des Zeiten Weltkrieges beschrieb.

In „Drood“ greift Simmons ein Ereignis im Leben des Autors Charles Dickens auf (1812 – 1870). Am 9. Juni 1865 gehört Dickens zu den Überlebenden eines Eisenbahnunglücks. Er leistet den Verletzten erste Hilfe, rettet das Manuskript, an dem er arbeitet, und begegnet einem leichenblassen, verstümmelten Mann namens Drood, der einigen Schwerverletzten auf eine undurchschaubare Art und Weise das Leben zu nehmen scheint. Dickens bleibt beeindruckt von dieser Begegnung. Er lässt seine Verbindungen spielen und steigt hinab in die Londoner Unterstadt, um Drood zu suchen.

Der Roman wird aus der Perspektive Wilkie Collins erzählt (1824 – 1889), eines Freundes und als Autor auch Konkurrenten Dickens. Collins schenkt Dickens keinen Glauben, folgt seinem Freund dennoch in die Londoner Unterstadt, in der sie getrennt werden und in der Dickens – angeblich – Drood begegnet. Der Privatdetektiv Charles Frederick Field, ein ehemaliger Scotland-Yard-Inspektor, erpresst Collins und fordert ihn auf, Dickens über Drood auszuhorchen, den Field für einen Massenmörder hält. Collins wird opiumsüchtig und erfährt nach einem Rausch eine unangenehme Begegnung mit Drood.

„Drood“ beschreibt nicht nur die Suche nach Drood und sein Wirken auf Dickens und vor allem Collins, sondern auch die letzten Lebensjahre Dickens, die in literarischer Hinsicht von seinen Lesereisen in den USA und in Großbritannien bestimmt wurden, das gesellschaftliche Leben jener Epoche, das auch in Familien und engen Beziehungen von Intrigen geprägt war, und die sich zuspitzende Konkurrenzsituation zwischen Dickens und Collins. Darin gleicht „Drood“ dem Roman „Terror“, der sich auch durch die authentische und eindringliche Darstellung des Lebens an Bord der „Erebus“ und der „Terror“ im arktischen Eis auszeichnete. Leser mit einem Faible für die englische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts – oder nur für gewisse Klassiker, zugegeben – werden in „Drood" zahlreiche literarische Anspielungen finden.

In „Drood“ greift Simmons erneut auf eine alte Mythologie zurück, und zwar auf die ägyptische, die Drood in London etablieren will, und offenbart auch, welche Rolle dabei Dickens und Collins spielen sollen. Das erste ist simpel, das zweite verblüffend konsequent. Immerhin lässt Simmons offen, ob Dickens tatsächlich unter den Einfluss Droods geriet, im Gegensatz zu Collins. Jedoch starb Dickens auf den Tag genau fünf Jahre nach dem Eisenbahnunglück von Staplehurst und sein letzter, unvollendeter Roman trägt den Titel „Das Geheminis des Edwin Drood“ – Fakten, deren Verwendung sich selbstverständlich anbot und die im Kontext den Romans für eine Einflussnahme Droods auf Dickens sprechen.

„Drood“ ist weit davon entfernt, eine Kopie von „Terror“ zu sein. Simmons benutzte zwar dasselbe Konzept, wandte sich jedoch einem völlig anderen Thema zu – von der arktischen Kälte in die literarische Szene Londons des neunzehnten Jahrhunderts. Und auch diese Darstellung ist brillant; spektakulärer ist natürlich die Franklin-Expedition aus „Terror“. Einen Aspekt hat Simmons freilich kopiert, und zwar den Rückgriff auf eine Mythologie – in „Terror“ auf die der Inuit, in „Drood“ auf die bekanntere der Ägypter. Nun, zumindest diese Auswahl bleibt für zukünftige Romane groß! Ob Simmons auch an weitere reizvolle historische Ereignisse anzuknüpfen vermag, bleibt abzuwarten.