Peter van Olmen: Odessa und die geheime Welt der Bücher (Buch)

Peter van Olmen
Odessa und die geheime Welt der Bücher
(De kleine Odessa)
Aus dem Niederländischen übersetzt von Mirjam Pressler
Titelillustration von Jürgen Gawron
Vignetten von Nicole de Cock
Dressler, 2010, Hardcover, 540 Seiten, 19,95 EUR, ISBN 978-3-7915-1504-5

Carsten Kuhr

Odessa hat sich ihr ganzes Leben lang nach Abenteuern gesehnt. Aber sie hatte es sich anders vorgestellt, mit einem Vater, der sie auf lange Expeditionen mitnehmen würde, und einer Mutter, die versuchen würde, sie zurückzuhalten. Nun war ihre Mutter entführt worden, sie hatte einen nervigen, sprechenden Kanarienvogel am Hals und war auf der Suche nach einer Stadt, die es nicht gab, voller Schriftsteller, die eigentlich längst tot waren (Seite 78).

Natürlich sollte man dazu wissen, dass Odessas Mutter eine Muse ist, die, nachdem sie ein Kind unter ihrem Herzen trug, ihre Gabe verloren hat und in die Welt der Menschen geflüchtet ist. Nach Jahren, in denen sie sich und ihre Tochter vor ihren Häschern versteckt hat, sind die Schnüffler – Menschen, deren Leiber durch Insekten ersetzt wurden – und Gnorks – eine etwas misslungene Gestaltwerdung der Tolkien’schen Orks – ihr auf die Spur gekommen. Als sie gefangengenommen wird, kann auch Pegasus, das fliegende Pferd, und ihr alter Freund Shakespeare ihr nicht mehr helfen. Doch noch hat sie ja ihre Tochter, die sich mutig und voller Elan auf die Mission macht, ihre Mutter aus den Händen des verrückten Schriftstellers Mabarak zu befreien und endlich nach ihrem Vater zu befragen – wenn sie nur nicht immer Angst und Selbstzweifel überkommen würden....

Man stelle sich das vor, eine Stadt, die einzig von Buchliebhabern bewohnt wird. Ist das nicht ein ganz besonderer Traum? Autoren, Illustratoren, Buchdrucker und Buchbinder, die gemeinsam und in Einklang an alten und neuen Meisterwerken arbeiten. Ach, was sage ich „arbeiten“ – muss es nicht eine Freude sein, all diesem kreativen Köpfen bei ihrem Schöpfungsakt zuzusehen?

Wenn, ja wenn es nicht auch bei eigentlich verstorbenen Verfassern, gestaltgewordenen Romanfiguren und den inspirierenden Musen die ganz typischen menschlichen Charakterschwächen geben würde. Mit viel augenzwinkerndem Witz, messerscharfem Blick für allzu menschliche Schwächen und einem Gespür für die Befindlichkeit der jugendliche Protagonistin entführt uns der Autor auf abenteuerlichen Wegen in eine nur auf den ersten Blick heile Bücherwelt. Mit der jungen Odessa müssen wir uns unseren Ängsten stellen, müssen Verlust und Enttäuschung, Ablehnung und Verleumdung ertragen und uns gegen den Widerstand der Honoratioren durchsetzen.

So geht es unterschwellig viel um Selbstbewusstsein, um Eigeneinschätzung und darum, an seinen Aufgaben nicht zu verzweifeln, sondern sein Bestes zu geben. Verpackt hat Olmen diese Botschaften in einen Auftritt, der sich weidlich bei der Weltliteratur bedient. Der Minotaurus, Orpheus und Eurydike, Pegasus und Holmes – die Liste ist lang, und liest sich wie ein Who is Who der Weltliteratur. So bietet das Buch auch erwachsenen Lesern ein willkommenes Wiedersehen mit altbekannten Freunden und bannt die abwechslungsreich und spannend aufgezogene Handlung den Leser an die Seiten.