Cixin Liu: Die wandernde Erde (Buch)

Cixin Liu
Die wandernde Erde
(Liulang diqiu, 2008)
Übersetzung: Karin Betz, Johannes Fiederling und Marc Hermann
Titelbild: Stephan Martinière
Heyne, 2018, Paperback, 684 Seiten, 14,99 EUR, ISBN 978-3-453-31924-0 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Gunther Barnewald

Dieser Band enthält 11 Novellen beziehungsweise Kurzgeschichten von Cixin Liu, die zwischen 1999 und 2006 veröffentlicht wurden und gesammelt 2008 in China erschienen sind. Außer einer kürzeren Geschichte (ca. 20 Seiten) sind die anderen Texte zwischen etwas mehr als 30 bis etwas mehr als 70 Seiten lang und spiegeln Lius Faible für große Themen wider, da der Untergang der menschlichen Zivilisation beziehungsweise des Planeten Erde ein immer wiederkehrende Thema bei ihm zu sein scheint.

Nur wenige der 11 Texte beschäftigen sich mit „kleineren” Themen (eigentlich nur zwei, die zusammen gehören, nämlich die einzige knapp 20seitige Story „Mit ihren Augen”, einer der besten Texte Lius hier, und „Durch die Erde zum Mond”, die vielleicht „langweiligste” Erzählung in diesem Band).

Neben etwas mehr als 600 Seiten (in den 11 Erzählungen) enthält die vorliegende Ausgabe zusätzlich eine Liste mit Anmerkungen zu einzelnen Details im Text, Hinweise zur Schreibweise und Aussprache chinesischer Namen und ein sehr gutes Nachwort von Nicolas Cheetham über die Entwicklung der chinesischen Phantastik (und eine vielleicht etwas überflüssige Leseprobe von Cixin Lius Meisterwerk „Die drei Sonnen“, denn wer sich diesen Band mit kürzeren Texten zulegt, hat bestimmt vorher schon diesen Roman gelesen!).

Im jeweiligen kurzen Vorwort zu jeder Erzählung wird viermal angedeutet, dass jeweils zwei der Texte zusammen gehören (nur zweimal stimmt dies wirklich, wobei in beiden Fällen aber im gleichen „Universum” dann doch andere Themen behandelt werden und man sich als Leser fragt, warum man bei Heyne nicht ehedem die Reihenfolge der angeblichen „Zusammengehörigkeit” gewählt hat, anstatt den der Ursprungsausgabe, denn so liest man als Leser ständig hin und her, was irritierend ist).

Trotz der schwach entwickelten Charaktere, die so typisch für den Autor sind (meist dienen sie nur als „Augen” für den Leser, um die Geschichte wahrnehmen zu können, manchmal haben die Protagonisten nicht einmal einen Namen, so wie in „Das Mikrozeitalter”, wo der Handelnde einfach nur „Der Vorreiter” heißt), gelingt es Liu in den vorliegenden Texten trotzdem zumeist, den Leser mit seinen kühnen Welt-Entwürfen zu faszinieren und mit der Handlung zu fesseln (Ausnahme vielleicht die etwas zu techniklastige Novelle „Durch die Erde zum Mond”, die an die Kurzgeschichte „Mit ihren Augen” anschließt, der einzigen kürzeren Story, die ungewöhnlich gefühlvoll für den Autor daher kommt, aber gerade deswegen sehr gefällig ist).

Ähnlich wie bei seinen Romanen gelingt es dem Autor oft verblüffend gut, alten Themen neue Seiten abzugewinnen, seinen Protagonisten manchmal irritierende Sichtweisen aufzuerlegen.


So erhält der junge Feng Fan in „Gipfelstürmer” die Gelegenheit, mit hochentwickelten Außerirdischen zu kommunizieren, die gerade dabei sind, die ganze Erde zu zerstören. Aber anstatt sich für das Überleben der Menschheit einzusetzen, lässt sich der junge Chinese die Weltsicht der Fremden und deren Geschichte erklären, was extrem befremdlich und enervierend aber auch irgendwie aufregend ist.

Und während in „Um Götter muss man sich kümmern” ein ganz besonderes Seniorenproblem auf die Menschheit zukommt (denn die hochentwickelten Schöpfer der Menschheit sind alt geworden und wollen auf der Erde gepflegt und bemuttert werden, was aber ob deren großer Anzahl und ihrem langen Leben für die Menschheit schnell zur Zumutung wird), entwirft die Fortsetzung „Die Versorgung der Menschheit” einen krassen satirischen Blick auf die schlimmsten Auswüchse des Kapitalismus (eine fremde Rasse mit den gleichen Schöpfern wie die Menschheit hat in riesiger Anzahl ihre Welt verlassen, da sie dort keinen Platz mehr haben, da einem einzigen Superreichen fast die ganze Welt gehört, inklusive aller Ressourcen wie Luft und Wasser). Wie Liu hier eine Welt skizziert, in der die Menschenrechte keine Rolle spielen und dafür aber die höchste Achtung von Privatbesitz im Mittelpunkt des Handeln des Staates steht, ist faszinierend und horribel zugleich, wobei der irdische Auftragskiller als Protagonist der moralisch-emotionalen Kälte der Geschichte nochmals zusätzlich die Krone aufsetzt. Ebenfalls ist der angedeutete Plot der Geschichte einer der Kühnsten.

Auch sich selbst und einen Kollegen bringt der Autor anfangs sehr humorvoll in die Erzählung „Fluch 5.0” ein, bevor „der Spaß ein Loch bekommt” (alte deutsche Redensart) und mal wieder der Untergang der Menschheit droht (was dann doch etwas klischeehaft wirkt!).

Während in „Weltenzerstörer” (vorab von Heyne 2018 als eigenständiges Taschenbuch publiziert) mal wieder Fremde, die sich bald als gar nicht so fremd entpuppen, die Erde völlig zerstören wollen, schildert „Das Ende der Kreidezeit” die Aufkündigung der Symbiose zwischen intelligenten Dinosauriern und fast ebenso cleveren Ameisenkulturen. Diese Geschichte beruht zweifellos auf einer ähnlichen Idee wie „Weltenzerstörer”, beide spielen aber eindeutig nicht im gleichen Universum.

Ebenso gehören auch „Die wandernde Erde” (die Erde muss wegen der bevorstehenden überraschenden Konvertierung der Sonne zu einem Roten Riesen ihre Umlaufbahn verlassen und aus dem Sonnensystem flüchten, wobei sich bald die Frage stellt, ob die Wandlung der Sonne nicht nur ein Betrugsversuch eingefädelt von Macht-Eliten der „Einheitsregierung” darstellt) und „Das Mikrozeitalter” (ein Raumfahrer, der keinen Ersatzplaneten in der näheren Umgebung der Sterne für die Menschheit und deren ausgebeutete und schwer angeschlagene Erde gefunden hat, erlebt bei seiner Rückkehr zum Heimatplaneten eine große Überraschung) eindeutig nicht wirklich ins gleiche Universum. Bei der Titel-Novelle wird aber deutlich wie gut Liu erzählen und den Leser fesseln kann, denn auch wenn die gewaltigen Strahlantriebe auf der Erde von der menschlichen Logik her unsinnig erscheinen, der Autor verkauft sie dem Leser mit viel scheinbarer wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit, Verve und Schmackes, so dass man gar nicht umhin kann als die flotte Geschichte einfach zu genießen.


Ein besonderes Lob für die guten Übersetzungen und die vielen erklärenden Anmerkungen gegen Ende des Buchs! Und ein noch größeres Lob für das kompetente Nachwort von Nicolas Cheetham, der die Entwicklung der chinesischen Phantastik auf nur wenigen Seiten fachkundig erläutert.

Auch dieser Band Lius ist wieder höchst lesenswert, interessant (vor allem durch die manchmal fremdartige Perspektive des Chinesen) und vor allem spannend geraten. Hoffentlich greifen die Leser von Lius Romanen auch zu diesem Buch, sind doch Kurzgeschichten (und vor allem Novellen) oft nicht so beliebt beim Käufer. Wer jedoch „Die wandernde Erde“ auslässt, der verpasst packende, innovative und vor allem verblüffende Geschichten, die es allemal wert sind, entdeckt zu werden!