Ursula K. LeGuin: Erdsee - Die illustrierte Gesamtausgabe (Buch)

Ursula K. LeGuin
Erdsee - Die illustrierte Gesamtausgabe
Titelbild und Innenillustrationen: Charles Vess
Übersetzung: Karen Nölle, Sara Riffel und Hans-Ulrich Möhring
Tor, 2018, Hardcover, 1100 Seiten, 58,00 EUR, ISBN 978-3-596-70160-5

Rezension von Carsten Kuhr

Willkommen in Erdsee, einer Welt, die aus einem Archipel hunderter kleiner, auf den ersten Blick pittoresker Inseln besteht. Die größten und bedeutendsten Inseln dieser Ansammlung sind Atuan und Rok, auf der die berühmte Zaubererschule angesiedelt ist. Neben dem Archipel sind den Bewohnern weitere Inselreiche bekannt, wobei das kriegerische Kargad immer wieder mit Überfällen und Eroberungsversuchen von sich reden macht. Ursula K. LeGuin hat ganz bewusst offen gelassen, wie ihre Welt jenseits der Inselwelt beschaffen und bevölkert ist.

Überall auf den Inseln ist die Magie allgegenwärtig. Kundige Männer - Frauen besitzen in aller Regel nur geringe Zauberkräfte und fristen unausgebildet und eher misstrauisch ja ablehnend beäugt ein Dasein als Hexen - werden in der Kunst ausgebildet und sichern den Frieden und Wohlstand des Archipels.

Der Ziegenhirt Ged, Sperber genannt, steht im ersten Teil der Tetralogie im Zentrum des Geschehens. Eher zufällig entdeckt er seine Begabung für die Magie, wird von seiner Tante, einem alten Zauberweib, ein wenig in den Kräften unterwiesen. Dies erweist sich für ihn und sein Dorf als mehr als hilfreich, als Piraten Gont überfallen. Sperber verbirgt sein Dorf unter einem undurchdringlichen Nebel und rettet so dessen Bewohner.
Die Heldentat bleibt nicht unbelohnt. Der örtliche Magier nimmt den Jungen in die Lehre, allein Sperber will weit mehr lernen, als ihm der weise Mann vermitteln kann. So macht er, nachdem ihm sein Meister seinen wahren Namen verliehen hat, sich auf, die berühmte Schule auf der Insel Rok zu besuchen und dort seine Fähigkeiten weiter zu verbessern. Das Wichtigste, was er dort lernt, ist das Geheimnis um die wahren Namen aller Dinge, die einem Kundigen Macht über die Person oder den Gegenstand verleihen. Die Namen stammen aus der Sprache der Drachen, in der ein Lügen unmöglich ist.
Dass er, jung und naiv wie er ist, sich an einem Zauber versucht, der ihn überfordert, birgt Gefahren für ihn wie seine Umwelt. Er setzt einen Schatten frei, ein Wesen aus seinem tiefsten Inneren, seinen dunklen Seiten, der ihn wie seine Umgebung bedroht. Sperber übernimmt die Verantwortung für seine Tat, und nimmt sich vor, seinen Schatten zu bannen.

Tenar wurde erwählt, die nächste Hohepriesterin der Gräber von Atuan auf einer der Inseln des Kargad-Reiches zu werden. Bei ihrem Auftrag, die Gräber zu schützen trifft sie auf Ged, der ein mächtiges Artefakt sucht. Statt, wie es die Überlieferungen von ihr verlangt, den Eindringlich unverzüglich zu töten, setzt sie ihn gefangen und verhört den vermeintlichen Dieb. Zusammen versuchen sie die Bedrohung, die über den Inseln liegt, abzuwenden.

Arren, Prinz von Enland sucht auf Rok nach Hilfe. Auf allen Inseln geht die Magie verloren, Menschen vergessen ihre Fähigkeiten, Zauber und Lieder, Gedichte und Überlieferungen verschwinden aus dem Gedächtnis der Menschen. Ged, der inzwischen zum obersten Magier berufen wurde, beschließt zusammen mit dem Prinzen die Länder zu bereisen und dem Übel auf den Grund zu gehen…

Im vierten Band wechselt der Fokus wieder zu Tenar. Diese lebt zwischenzeitlich, nachdem sie die Magie aufgegeben hat, als Witwe auf Gont; zwei Kinder hat sie groß gezogen, als sie ein Findelkind bei sich aufnimmt. Ein Kind, das große Kräfte in sich trägt und eines Tages die Rettung bedeuten könnte…


Zu Beginn des Jahres verstarb mit Ursula K. LeGuin, eine der beeindruckendsten Stimmen der Fantasy, nein eigentlich der modernen Literatur. Nicht nur ihre Werke bleiben in Erinnerung, auch ihr Blog, in dem sie zu Zeitgeschehen ebenso vehement Stellung nahm, wie sie dort ihre Gedanken zur Stellung des Menschen und weiteren philosophischen Fragen kundtat, werden uns fehlen.

Dass sie das Erscheinen vorliegenden Prachtbandes nicht mehr erleben durfte ist schade, haben sich Illustrator, Herausgeber und Verlag doch bemüht, ihre wohl bekannteste Schöpfung in einem ganz besonders gestalteten Buch herauszustellen. Ein übergroßer, dicker und angesichts Umfangs mit 1103 Seiten schwerer Band ist es geworden, ein Buch, das aus den monatlich erscheinenden Novitäten heraussticht, das den Inhalt wunderbar bibliophil präsentiert.

Das erste Mal veröffentlichte Heyne Anfang der 70er Jahre die damalige Trilogie, der die Autorin später noch zwei weitere Romane und Kurzgeschichten nachfolgen ließ. Nach- und Neuauflagen bei Heyne, Piper und Weitbrecht folgten. Nun also, man könnte es als literarisches Vermächtnis titulieren, vorliegende Prachtausgabe von Tor.

Was die Autorin 1968 mit der Veröffentlichung des ersten Romans begann, nämlich eigentlich die Geschichte eines Jungen zu erzählen, der zum Magier ausgebildet dazu ausersehen ist, seine Welt zu retten, das erwies sich bei der Lektüre als so viel mehr.

Anders als viele ihre Nachahmer beschränkt sich LeGuin nämlich nicht darauf, nur eine spannende Geschichte zu erzählen. Sie stellt (viele) Fragen, beantwortet diese nur zum Teil und oft auch so, dass daraus neue Fragen entstehen. Zusammen mit dem Protagonisten nähern wir uns der beschriebenen Welt an, versuchen sie kennen und begreifen zu lernen, hinterfragen die Machtstrukturen und Überlieferungen und versuchen ein Gleichgewicht zu erreichen. Der Gedanke des Daoismus war der Autorin wichtig, die philosophischen Fragen und Anmerkungen, die die Erzählungen durchziehen, hoben und heben diese aus den sonst oft platten Fantasy-Romanen heraus. So suchen wir zusammen mit unseren Erzählern nach dem Gleichgewicht, begreifen, dass jede Aktion ihre Reaktion hervorruft und deshalb sorgfältig überdacht werden muss. Hier geht es der Autorin auch darum, Verantwortung zu erkennen und zu akzeptieren, sich selbst, seine Handlungen und deren Wirkungen zu hinterfragen, letztlich um die Frage des Macht-Missbrauchs, den sie immer wieder, auch tagespolitisch sehr dezidiert, angeprangert hat. Aus ihren Texten sprach immer auch ihre Menschlichkeit und Solidarität mit den Schwächeren und ihr Eintreten für Toleranz.

Dabei gelingt ihr der schwierige Spagat zwischen Anspruch/Botschaft und Unterhaltung. Die Romane lesen sich nicht nur bereichernd, sondern auch packend auf einen Rutsch durch. In der ihr eigenen, poetischen Sprache, die in der Neuübertragung wunderbar stimmig umgesetzt wurde, entführt sie uns in eine phantastisch andere und doch wieder erkennbare und erlebbare Welt, präsentiert uns fehlerbehaftete Menschen die auf der Suche sind. Auf der Suche nach Erkenntnissen, auf der Suche nach Glück, letztlich aber wohl hauptsächlich auf der Suche nach sich selbst.

Nicht unerwähnt bleiben dürfen die kongenialen Illustrationen die Charles Vess beigesteuert hat, und die den Text auch optisch zum opulenten Genuss machen!

Ein tolles Buch, das zurecht Weihnachten auf so manchen Gabentisch liegen wird.