Lovecraft Letters 1, Christian Gailus (Buch)
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- Kategorie: Rezensionen
- Veröffentlicht: Samstag, 21. Juli 2018 23:34

Lovecraft Letters 1
Christian Gailus
Titelbild: Timo Wuerz
be-ebooks, 2017, eBook, ca. 150 Seiten, 1,99 EUR
Rezension von Elmar Huber
„Ja, wir würden Lovecrafts Vermächtnis aus der Dunkelheit ans Licht zerren. Wir würden uns nicht mit der Interpretation seiner Werke zufriedengeben, sondern in seine Gedanken- und Erlebniswelt eintauchen. Mit Artefakten aus seiner Zeit und seinem Leben würden wir eine Atmosphäre erschaffen, die der von Lovecraft ähnelte. Wir wollten nicht nur in seinen Kopf, sondern auch in seine Träume. Die Albträume, die Dagon und Cthulhu hervorgebracht hatten und die furchtbaren Fischwesen aus Schatten über Innsmouth. Wir waren bereit für eine Reise in die Finsternis.“
Ray Berkeley ist als Psychologe bei der Beratungsfirma Henderson & Remington angestellt. Als Sachverständiger der Verteidigung im Fall eines Geiselnehmers/Mörders beruft er sich auf ein windiges Experiment, das von der Staatsanwaltschaft gnadenlos zerpflückt wird. Als Exempel wird Ray von dem Fall abgezogen, und er muss sich fortan mit einem der Junganwälte der Firma um den Ehe-Mord ‚Coleman‘ kümmern.
Henry Coleman soll seine Ehefrau vom Balkon des gemeinsamen Hauses gestoßen und danach brutal ausgeweidet haben. Rays Aufgabe ist es, ein psychologisches Gutachten des Verdächtigen anzufertigen.
Während des Gespräches mit dem Historiker tischt ihm dieser eine wilde Geschichte auf: Er und sein Jugendfreund St. John haben es sich zum ‚Ruhestandshobby‘ gemacht, die Geschichten H. P. Lovecrafts auf bisher nie dagewesene Art und Ausführlichkeit mit dem Leben des Schriftstellers in Beziehung zu setzen und so den wahren Kern hinter den Horror-Geschichten aufzudecken. Dazu stellten sie ihr ganz eigenes Lovecraft-Kabinett mit persönlichen Gegenständen des Schriftstellers, private Korrespondenz, Tagebücher etc. zusammen. St. Johns Tätigkeit und Verbindungen als Reeder bescherten den Freunden sogar einige ganz außergewöhnliche Stücke.
Die Aussicht auf einen Siegelring Lovecrafts, führte Coleman in die Niederlande, wo er den Besitzer des Rings nur noch brutal zerstückelt vorfand. Er konnte zwar vom Tatort fliehen, doch das hundeartige Monster, das für den Mord verantwortlich war, folgte ihm nach Amerika und tötete dort Colemans Ehefrau. Auch St. John starb zwischenzeitlich unter mysteriösen Umständen.
„Auch ich hörte Personen vor der Abteiltür herumschleichen und war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob es sich um Freund oder Feind handelte. Mein Gefühl für die Realität kam mir zunehmend abhanden. Meine Fantasie schlug Haken. Mir kam der Gedanke, dass es sich gar nicht um mein Experiment handeln könnte, sondern ich in Wirklichkeit der Proband eines ganz anderen Versuchs war.“
Mit „Lovecraft Letters“ startet Lübbes ebook-Imprint be eine Romanreihe, die sich auf das Werk des allseits bekannten und immer noch immens beliebten Horror-Schriftsteller H. P. Lovecraft bezieht. Das hat vor über 20 Jahren bereits mit Wolfgang Hohlbeins „Der Hexer“-Serie funktioniert und sollte auch heute klappen, erscheint doch regelmäßig in den verschiedensten Verlagen eine erkleckliche Anzahl an Lovecraft-Pastiches.
Im Gegensatz zu Hohlbeins Epos ist „Lovecraft Letters“ in der Gegenwart angesiedelt und bedient sich absolut moderner Erzähltechniken. Direkt nach einem actionreichen Prolog führt Autor Christian Gailus die Hauptfigur Ray Berkeley während der laufenden Handlung im Turbomodus ein.
Erst nachdem Ray den psychologischen Dämpfer von seinem Vorgesetzten versetzt bekommt, schaltet das Tempo einen Gang zurück, und der Autor lässt den vermeintlichen Ehefrauenmörder Coleman mit seiner bizarren Geschichte die Basis für den Fortgang der Handlung schaffen. Garniert wird das Ganze mit mehreren Zeit- und Ortswechseln. Der Autor blendet aus der Gegenwart immer wieder zurück in Colemans Geschichte, sowie parallel - noch völlig autonom - zu einer Gruppe Studenten, die bei einer Höhlen-Exkursion eine grauenerregende Entdeckung machen.
Die nicht ganz Lovecraft-unbeschlagenen Leser wissen anhand diverser Andeutungen - Ray hat merkwürdige Visionen und Träume - hier bereits, wie der Hund grundsätzlich weiter läuft. Es sollte also irgendwie mit den großen Cthulhu zugehen, wenn nicht herauskäme, dass Ray in Sachen Lovecraft und/oder Große Alte irgendwie vorbelastet ist und er sich plötzlich, ganz Robert Langdon-like, in einer Story wieder findet, die er gar nicht mehr unter Kontrolle hat. In diesen Grundzügen erinnert „Lovecraft Letters“ doch wieder an Hohlbeins „Der Hexer“ und auch ein wenig an Alan Moores „Providence“.
Insgesamt ist „Lovecraft Letters“ in seinen Grundzügen vorhersehbar, doch absolut professionell, modern und temporeich geschrieben und vor allem mit einer eigenständigen Basis versehen, auf die nun aufgebaut werden kann. Das Gesetz der Serie muss natürlich auch bedient werden, indem einige Handlungsfäden begonnen werden, an die die Folgebände anknüpfen können. Hier merkt man Christian Gailus die (Thriller-) Serien-Erfahrung deutlich an; unter anderem hat der Autor für Audible die Thriller-Serie „Glashaus“ geschrieben.
Mit einer Titelillustration von Timo Würz ist natürlich auch optisch für die passende Horror-Stimmung gesorgt. Ein sehr gelungener Eye-Catcher, dessen Hauptmotiv für die Folgeteile immer etwas variiert wird.
Entgegen vieler anderer Autoren, die oft mehr schlecht als recht versuchen, die besondere Lovecraft-Stimmung zu kopieren, liefert Christian Gailus einen regelrechten Lovecraft-Thriller ab, der neugierig auf die weitere Entwicklung macht.