Allen Eskens: Das Leben, das wir begraben (Buch)

Allen Eskens
Das Leben, das wir begraben
(The Life We Bury, 2014)
Übersetzung: Claudia Rapp
Festa, 2018, Hardcover, 414 Seiten, 19,99 EUR, ISBN 978-3-86552-641-0 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Carsten Kuhr

Selbst unter Tieren gibt es sie: die Rangordnung. Anführer und Untergebene - überall wo Lebewesen, seien sie intelligent oder nicht, aufeinandertreffen, bilden sich Strukturen. Dies gilt auch, ja sogar insbesondere im Knast. Oben rangieren die Mörder, dann folgen die Diebe und Betrüger, ganz unten sind dann die Pädophilen angesiedelt, wobei die Kinderschänder, die ihre Opfer auch noch umbringen, die Ersten sind die sich bücken dürfen, wenn einer ihrer Knastbrüder Lust verspürt.

Carl Iverson saß gut dreißig Jahre lang für den Missbrauch seiner 14jährigen Nachbarin, die er anschließend auch noch stranguliert und verbrannt haben soll, im Gefängnis. Der Bauchspeicheldrüsenkrebs sorgte dafür, dass er seine letzten Wochen in Freiheit im Hospiz verbringen darf.

Joe Talber hat eine Kindheit hinter sich, die geprägt ist von Leid und Not. Seinen Vater hat er nie kennengelernt, seine Mutter ist dem Alkohol hemmungslos verfallen, seinen autistischen jüngeren Bruder hat er mehr oder minder alleine aufgezogen. Seit einigen Monaten ist er weg von zu Hause. Er studiert, jobbt nebenher als Rausschmeißer in einem Club, ab und an darf er auch an den Zapfhahn. Jetzt bekommt er als Semesterarbeit die Aufgabe, eine Biographie zu schreiben. Während andere ihren Opa und dessen Kriegserinnerungen anzapfen, hat er niemanden im näheren Umfeld, den er befragen kann. Er sucht und findet in dem Schwerverbrecher Iverson einen interessanten Kandidaten - der auf dem Sterbebett seine Beichte ablegen will. Dumm nur, dass der vom Krebs gezeichnete, aber geistig hellwache Mann auch noch überzeugend behauptet, unschuldig zu sein.

Joe macht sich auf die Suche nach der Wahrheit. Zunächst misstraut er den Aussagen des alten Mannes, dann fallen ihm Ungereimtheiten auf und er stößt auf Indizien, die den Täter in einer anderen Richtung vermuten lassen…


Der Festa Verlag ist, neben seinen Horror-Klassikern und modernen Verfassern der Weird Fiction, insbesondere für seine Extrem-Reihe bekannt. Bei Festa Extrem erscheinen Titel, die die Gewalt und die Perversität besonders in den Mittelpunkt des Plots stellen, die erfolgreich versuchen, den Leser mit besonders deftigen, unappetitlichen Schilderungen zu schocken. Weniger bekannt ist die erst vor gut einem Jahr gestartete „Must Read“-Reihe. In dieser veröffentlicht der Verleger Bücher, die in irgendeiner Weise ganz besonders sind, die man gelesen haben sollte. Und Festa adelt diese Titel durch eine hochwertige Ausstattung: Fadenheftung mit Lesebändchen, Hardcover-einband, Umschlag in Leder-Optik.

Der neueste Band der wohlfeilen Reihe liegt vor - respektive nach einer durchgemachten Nacht hinter mir.

Eskens erzählt uns eine Geschichte, die zunächst von der Grundkonstellation her bekannt ist. Es geht um ein altes Verbrechen, dessen Hintergründe Jahrzehnte nach der Tat neu aufgerollt und untersucht werden. Es geht letztlich darum herauszufinden, was damals geschah, ob die Rechtsprechung vor 30 Jahren zutreffend war, oder ob der Verdächtige zu unrecht sein Leben hinter Gittern verbracht hat.

Als Vehikel dient uns dabei ein junger Mann, der mit seinem Schicksal punkten kann. Angesichts der nie sentimental oder zu gefühlsvoll vorgetragenen Historie innerhalb seiner Kleinfamilie ist er sich unseres Mitleids sicher. In kurzen Passagen lernen wir seine Familie kennen, erleben mit, wie seine Mutter ihn ausnutzt, sich ganz ihrer Abhängigkeit hingibt und die Verantwortung für sich und den Bruder auf den jungen Mann abwälzt. Das atmet viel Realität, besticht mit einer sehr genauen, dezidierten Betrachtung der Familiensituation.

Hinzu kommt die geradezu rührende Art und Weise, in der sich der Ältere um seinen autistischen Bruder kümmert - auch und gerade weil dies nicht selbstverständlich ist und oft große persönliche Opfer von ihm verlangt. Insoweit ist unser Erzähler vom Schicksal wahrlich nicht begünstigt, nimmt uns Leser aber durch seine Art, sich seiner Verantwortung zu stellen, für sich ein. Das ist ein Mensch, den man achten kann, den man gerne um sich haben würde, einfach weil er verlässlich ist.

Im Verlauf der Gespräche, der Untersuchungen und Nachforschungen werden dann Indizien gefunden, die den Plot vorwärts treiben. Trotzdem versteht es der Autor aber, den Schwerpunkt auf den Figuren zu lassen, uns ihre Gefühle, die wechselseitigen Entwicklungen zwischen den vier Hauptfiguren deutlich zu machen.

Selten konnte ich mich in die Gefühlswelt einer beschriebenen Figur so gut hineinversetzen, wie vorliegend. Dazu kommt die Jagd nach der Erkenntnis, was damals wirklich geschah. Dies alles fügt sich zu einer überaus gelungenen Melange aus Sittengemälde und Detektiv-Thriller, die den Leser, einmal mit der Lektüre begonnen, nicht mehr los lässt.