Eric Nylund: Der goldene Apfel – Gemini 1 (Buch)

Eric Nylund
Der goldene Apfel
Gemini 1
(Mortal Coils)
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Maike Claußnitzer
Titelillustration von Shutterstock
Penhaligon, 2010, Hardcover, 764 Seiten, 19,95 EUR, ISBN 978-3-7645-3049-5

Irene Salzmann

Eliot und Fiona Post sind nicht wie andere Zwillinge, die sich auf ihren 15. Geburtstag freuen: Sie leben bei ihrer Großmutter Audrey und Urgroßmutter Cee, denn die Eltern sind gestorben. Was ihnen zugestoßen ist, ist eine der Fragen, auf die es nie Antworten gibt. Statt eine Schule zu besuchen, werden die Kinder von Audrey unterrichtet. Ihnen steht ein immenser Schatz an Büchern zur Verfügung, dank dem sie über umfassende Kenntnisse in Bereichen verfügen, von denen Gleichaltrige nicht einmal gehört haben. Dafür jedoch sind Radio, Fernseher und Computer verboten – sowie vieles anderes, was in mehr als hundert Regeln festgelegt wurde. Nicht einmal zeitgenössische Kleidung ist erlaubt; stattdessen müssen Eliot und Fiona von Cee genähte, altmodische Hosen und Hemden bzw. Kleider tragen.

So erweist sich die Feier einerseits als enttäuschend, da sie nach dem üblichen Muster abläuft und die Geschenke größtenteils vorhersehbar waren, und doch als überraschend, denn ein Fremder taucht auf. Ab diesem Moment beginnt sich alles für die Zwillinge zu verändern, und sie werden mit Dingen konfrontiert, die sie sich niemals hätten träumen lassen. Angeblich sind ihre Eltern noch am Leben – und sie selber sind wirklich nicht wie andere Kinder.

Harte Prüfungen sollen beweisen, ob die Zwillinge zur Familie der Mutter oder des Vaters gehören. Während die Angehörigen mütterlicherseits ihre Pläne teilweise offenbaren und im Rahmen gewisser Regeln kleine Hilfen gewähren, testet die mit ihnen verfeindete, durch ein uraltes Abkommen zum Waffenstillstand gezwungene Sippe des Vaters im Verborgenen. Was auf die Kinder zukommt, ist gefährlich und tödlich, und sie dürfen niemandem vertrauen. Selbst der Beistand, den sie erhalten, ist mit Vorsicht zu genießen, denn es gibt für jeden etwas zu gewinnen oder zu verlieren.

Letztlich können sich Fiona und Eliot nur auf sich selber und die Kräfte verlassen, die sie in sich entdecken. Zusammen erreichen sie mehr, als wenn sie allein auf sich gestellt sind. Aber sie sind sich nicht immer einig und werden ständig in Versuchung geführt. Fiona scheint einer davon zu erliegen, und Eliot erfährt zu seinem Entsetzen, dass sie sterben muss …

„Der goldene Apfel“ ist der Auftakt-Band der „Gemini“-Serie von Eric Nylund, den Gamer und SF-Fans unter anderem als Autor einiger „Halo“-Romane kennen. Die Fortsetzung seines ersten umfangreichen All-Age-Fantasy-Romans erscheint in Kürze in den USA unter dem Titel „All That Lives Must Die“.

Vampire und Werwesen sind out, Engel und Teufel sind in. Der Klappentext nimmt vorweg, worum es in dem Roman geht und wer die antagonistischen Kräfte sind, die Fiona und Eliot, die beiden Hauptfiguren, testen und für sich gewinnen oder eliminieren wollen. Erfahrene Leser reimen sich sehr schnell zusammen, was vor Jahren geschah und wer die Eltern der Zwillinge sind. Wirkliche Überraschungen sind das nur für jüngere Genre-Fans.

Diese dürften den Band jedoch als zu langatmig empfinden. Der Autor baut sein Werk gemächlich auf, indem er ausführlich die Lebensumstände der Zwillinge beschreibt und die Angehörigen der beiden Familien – Engel und gefallene Engel – sowie deren Handlanger einführt. Winzige Höhepunkte von Zeit zu Zeit, die ahnen lassen, dass die Kinder mehr sind als gewöhnliche Menschen und eine bedeutende Rolle spielen werden, sollen das Interesse wachhalten und zum Weiterlesen veranlassen.

Dabei begeht der Autor einen Logikfehler: Audrey und Cee zwingen Fiona und Eliot ein abgeschottetes, unzeitgemäßes Leben auf, um sie vor beiden Familien zu verbergen und die in ihnen wohnenden Kräfte verschlossen zu halten. Aufgrund dessen ist das Erscheinungsbild und Verhalten der Zwillinge aber so auffällig, dass sie überall anecken. Ein Widerspruch in sich. Man wundert sich, dass der geheime Aufenthaltsort nicht früher gefunden wurde. Tatsächlich stellt sich heraus, dass es jemanden gibt, der das Versteck und die Kinder schon seit längerem im Auge behält und sein eigenes Süppchen kocht.

Dieser und andere greifen ein, als die letalen Prüfungen beginnen. Sie beugen die Regeln, um Eliot und Fiona in einem Anflug von ungewohnter Menschlichkeit oder in Hinblick auf persönliche Vorteile Tipps zu geben, aber im Großen und Ganzen sind die Zwillinge auf ihre Kenntnisse, Intuition und neuen Fähigkeiten angewiesen. Dabei haben sie sehr viel Glück und schaffen es, Situationen zu meistern, an denen selbst geschulte Einsatz-Teams scheitern würden. Ein paar Nummern kleiner, und die Probleme wären sehr viel nachvollziehbarer gewesen, aber man hat es hier nun mal mit Helden und Göttern zu tun.

Tief greift der Autor in die Kiste der Mythologie – „Der goldene Apfel“ (zum Beispiel der Idun, der Hesperiden), Gilgamesh, Loki, Luzifer, Beelzebub … –, der gängigen Zeitungsmeldungen (exotische Kanal-Bewohner) und der typischen Teenagerwünsche (eine Freundin, kulinarische Genüsse und so weiter). Durch Letztere gelangen kleine Romanzen in die Geschichte, die jedoch, in Hinblick auf die Zielgruppe der ab 14-jährigen, clean bleiben und wahrscheinlich erst in späteren Büchern weiter ausgeführt werden. Für das Kommende werden nebenbei die Weichen gestellt: Nachdem alle vordergründigen Fragen beantwortet wurden, bereitet der Autor die nächsten Konflikte vor.

Die Lektüre von „Der goldene Apfel“ hinterlässt ein zwiespältiges Gefühl. Man merkt, dass sich Eric Nylund große Mühe gab, eine Handlung aufzubauen, die vielschichtiger ist als die seiner Romane zu diversen Games. Man weiß kaum mehr als die Zwillinge, darf jedoch spekulieren. Die Charaktere versieht er mit Stärken und Schwächen, Zweifeln und Wünschen, positiven und düsteren Seiten. Der Spannungsbogen steigt mit den immer härter werdenden Prüfungen und den Interventionen der Himmlischen und Höllischen. Darüber vergisst man beinahe, dass verschiedene Fragen einer Antwort harren, zumal die wesentlichen Informationen dünn gesät sind und nur dann offenbart werden, wenn es notwendig ist.

In der Summe wurde jedoch nach bewährten Mustern (verfeindete Familien, Protagonisten, die zwischen den Stühlen sitzen, drei Prüfungen usw.) zu viel in den Roman hinein gepackt, und die Geschichte braucht ewig, um auf den Punkt zu kommen. Die vielen Details und Nebenschauplätze nehmen das Tempo aus der Handlung, wobei auf den mehr als 750 Seiten trotzdem für manche Charaktere kaum Raum blieb, um sie näher zu beleuchten und ihre Motive darzulegen. Obwohl beide Familien durch Schweigen, Lügen, Grausamkeiten und unvorhersehbare Aktionen nicht den üblichen Schwarz-Weiß-Klischees zu unterliegen scheinen, bleiben keine Zweifel, wem die Sympathien des Autors gelten.

Er schreibt routiniert, seine Story vermag zu fesseln, aber man sollte epische Wälzer mögen, um Spaß an der Lektüre zu haben. Schätzt man Titel wie „Der Name des Windes“, „Tamir Triad“ oder „Die Dämonenpforte“, dann wird man auch dem Auftakt-Band der „Gemini“-Serie eine Chance geben wollen.