Claire North: Die vielen Leben des Harry August (Buch)

Claire North
Die vielen Leben des Harry August
(The First Fifteen Lives of Harry August, 2014)
Aus dem Englischen von Eva Bauche-Eppers
Lübbe, 2015, Hardcover, 492 Seiten, 19,99 EUR, ISBN 978-3-431-03930-6 (auch als eBook erhältlich)

Von Karl E. Aulbach

Claire North ist ebenso wie Kate Griffin ein Pseudonym der britischen Autorin Catherine Webb, Jahrgang 1986, die bereits seit ihrem 14. Lebensjahr vor allem Fantasy-Romane publiziert. Der jetzt bei Lübbe veröffentlichte Roman „Die vielen Leben des Harry August“ gilt als ihr bis dato bestes Werk und wurde nicht nur für den Arthur C. Clarke Award nominiert, sondern gewann auch den John W. Campbell Memorial Award als bester SF-Roman des Jahres 2015.

 

Man stelle sich vor, dass es vereinzelt Menschen wie Harry August gibt, die ihr Leben leben, sterben und dann wieder in ihrem eigenen Körper zur Welt kommen, allerdings so, dass sie ab einem Alter von etwa drei Jahre auf die Erinnerungen ihres Vorlebens zurückgreifen können. Und das immer und immer wieder. Im Detail gar nicht so einfach, daraus Nutzen zu ziehen. Man weiß wohl so ungefähr, dass dieses und jenes geschehen ist, aber wann ist zum Beispiel dieser Krieg ausgebrochen, wann genau wurde dies oder jenes erfunden, welche Aktien wurden wann erfolgreich… - was nützen Kenntnisse über etwas, das es noch nicht gibt und das man mit eigenen Mitteln auch nicht erschaffen kann?

Harry August hat gegenüber den meisten dieser Kalachakras den Vorteil, dass er ein fotografisches Gedächtnis hat. So kann er dem Weltkrieg entweder ausweichen oder sich für einen ruhigen Posten bewerben. Trotzdem gerät er in Bedrängnis, als er seiner Frau davon erzählt, die entsetzt ist und ihn in einem Irrenhaus ablädt, wo durch seine Vorhersagen der Geheimdienst auf ihn aufmerksam wird und letztlich versucht, sein Wissen durch brutalste Folter bis auf den letzten Tropfen auszuquetschen.

Bei der Gelegenheit erfährt er, dass es noch mehr Menschen seiner Art gibt, die sich im Chronos Club lose zusammengeschlossen haben. Selbstmord rettet ihn letztlich aus dieser Situation, und im nächsten Leben nimmt er Kontakt zum Club auf. Der Club kümmert sich um die Wiedergeborenen mit dem Geist von Erwachsenen in dem er zum Beispiel Privatschulen installiert, die es erlauben, die Kinder aus ihrem Umfeld zu holen, in dem sie ansonsten immer wieder Kindheit, Schule etc. durchlaufen müssten.

Ansonsten ist Grundkonsens im Club, dass man sich nicht in die Ereignisse einmischen sollte, die man aus seinen früheren Leben als geschehen kennt, sondern sich eben ein behagliches Leben einrichtet. Einige gibt es jedoch, die den Verlauf der Zeit ändern, Erfindungen vorziehen, Entwicklungen verhindern oder beschleunigen wollen. Meist endet dies in katastrophalen Ergebnissen, weil die Dinge aus dem Ruder laufen; die Menschen noch nicht reif sind für bestimmte Dinge.


Eine der genialsten Ideen des Buches sind die Zeitnachrichten. Harry August lebt beispielsweise immer von 1919 bis um das Jahr 2000, je nachdem, das kann sich unterscheiden. Kurz bevor er stirbt, besucht ihn ein wiedergeborenes junges Mädchen im Krankenhaus, die vielleicht von 1995 bis 2080 lebt und richtet ihm eine Botschaft aus der Zukunft aus, die über diese seltsame Kette weit aus der Zukunft zurückgetragen wird und berichtet, dass die Welt dort vor dem Ende steht. Harry nach seiner nächsten Wiedergeburt gibt die Nachricht dann ins 19. Jahrhundert weiter und so weiter. Die Nachrichtenkette umgekehrt funktioniert über tote Briefkästen, behauene Steine mit Nachrichten und so weiter. Schließlich findet man so heraus, dass es ein Zeitgenosse von Harry ist, der für diese Entwicklungen verantwortlich ist. Ihn zu stoppen wird sehr schwer, weil er insgeheim den Club sabotiert, indem er den Kalachakras durch Elektroschocks das Gedächtnis raubt, sodass sie sich in ihrem nächsten Leben nicht mehr erinnern können. Eine weitere Methode ist, die Eltern des Kindes auszumachen und die Zeugung zu verhindern. Das führt dazu, dass dieser Kalachakra dann nie existieren wird.

Daher ist das Geheimnis, wo Harry immer geboren wird, und das Wissen, das er mehr durch Zufall bisher wahren konnte, plötzlich überaus kostbar, und er muss es durch weitere Selbstmorde schützen, um es nicht in der Folter preiszugeben. In jedem Leben zieht er den Kreis um seinen Widersacher, der mit der Entwicklung eines Quantenspiegels die letzten Fragen beantworten will und den Untergang auslösen wird, enger und versucht seinerseits, den Ort von dessen Geburt herauszufinden, um mit seiner Auslöschung alle Entwicklungen rückgängig zu machen.

Die Autorin hat ein grandioses Szenario mit einer in der Form vermutlich noch nie dagewesenen Idee geschaffen. Der Kampf der beiden Widersacher spielt sich meist auf einer völlig anderen, psychologisch hintergründigen Ebene ab, als der Leser dieser Zeilen vermuten wird. Wirklich ein phantastisches Werk! Einzige Kritik ist vielleicht, dass sich die Sache vor allem zum Ende hin etwas zu sehr in die Länge zieht und man am Schluss auch gern erfahren hätte, wie es denn mit Harry August weiterginge. Aber vielleicht kommt da noch was - der englische Titel lässt da ja einen gewissen Spielraum. Auf jeden Fall ist der Band ein Meilenstein.