Peter Pan Gesamtausgabe 1 (Comic)

Peter Pan Gesamtausgabe 1
(1. Londres; 2. Opikanoba; 3. Tempête)
Szenario, Zeichnungen und Kolorierung: Régis Loisel
Übersetzun: Eckart Sackmann
Ehapa, 2014, Hardcover, 184 Seiten, 29,99 EUR, ISBN 978-3-7704-3833-4

Von Frank Drehmel

Obgleich sich das Comic-Werk (Régis) Loisels vergleichsweise übersichtlich gestaltet – jedenfalls wenn man die Anzahl der Serien und Solo-Alben zum Maßstab nimmt –, so ist die Qualität seiner Arbeiten umso bemerkenswerter, zeugen doch zahlreiche Auszeichnungen und Preise von hoher Anerkennung bei Publikum und Kritik gleichermaßen.

Legte er mit seiner Arbeit an der Serie „Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit“ (dt. bei Carlsen) den Grundstein für seinen Erfolg, so steht die ab 1990 bei Vents d’Ouest erschienen Serie „Peter Pan“ dem anspruchsvollen Fantasy-Epos in nichts nach.

Neben einem umfangreichen redaktionellen Beitrag, in welchem Volker Hamann in einem ersten Teil den Werdegang Régis Loisels auch anhand zahlreicher Fotos und Skizzen nachzeichnet, wartet dieser erste Band der Gesamtausgabe mit den drei „Peter Pan“-Alben „London“ („Londres“), „Opikanoba“ („Opikanoba“) und „Tempête“ („Tempête“) auf, die im Original in den Jahren 1990 bis 1994 erschienen sind.

Winter 1887: in einem heruntergekommenen Viertel Londons, in dem Schmutz, Not und Hunger den Alltag der einfachen Leute bestimmen, unterhält ein kleiner Straßenjunge namens Peter gleichaltrige Gossenkinder mit abenteuerlichen und anrührenden Geschichten. Doch Peters Leben ist selbst alles andere als abenteuerlich und wundervoll: ohne Vater aufgewachsen lebt er in einem elendigen Heim bei seiner alkoholabhängigen Mutter, der die nächste Flasche billiger Fusel wichtiger ist als ihr Sohn; und selbst der alte Mr. Kundal, der den Jungen als eine Art Mentor in die Welt der Literatur und griechischen Mythen einführt, kann Peter nicht vor den Auswüchsen und der brutalen, geradezu obszönen Welt der Erwachsenen beschützen, einer Welt in der die Mitleidslosigkeit und Grausamkeit der Mutter das Kind schließlich aus dem Haus treibt.

Während Peter nächtens und frierend an einem halbverfallenen Holzpier unter einer Decke kauernd in die Geschichten des Altertums einzutauchen versucht, schwirrt ein kleines Licht aus dem dunklen Himmel herbei, eine kleine Fee, die ihm aufgeregt signalisiert, er solle fliegen, und die ihn schließlich mit Zauberpulver bestäubt. Und tatsächlich erhebt sich der Junge in die Lüfte, um bald an Bord eines seltsamen Piratenschiffs in einem fremden Land zu erwachen.

Auf diesem Schiff regiert mit eiserner Faust Käpt’n Hook, der ohne mit der Wimper zu zucken schon einen Großteil der Mannschaft bei dem Versuch, einen unterseeischen Schatz zu heben, einem gigantischen Krokodil zum Fraß vorgeworfen hat; ein Junge, der behauptet, fliegen zu können, könnte Hooks Probleme lösen. Daher entwickelte sich zwischen dem Piraten und Peter zunächst eine unheilige Partnerschaft, die die Wesen der Insel – Indianer, Feen, Nixen, Satyre und allerlei seltsame Geschöpfe – nicht zulassen können. Und so versuchen die Kreaturen, Peter zu befreien und dem üblen Einfluss zu entreißen.
Zwar gelingt der Plan, aber Hook erweist sich als gleichermaßen grausamer wie gerissener Gegner; und der Kampf mit dem Schurken ist erst der Beginn eines großen Abenteuers.

Mit Peter Pan erschuf der schottische Autor J. M. Barrie Anfang des 20. Jahrhunderts einen Archetypus der phantastischen Kinderliteratur, der nicht nur in zahlreichen Filmen, Bühnenstücken und literarischen Publikationen adaptiert wurde, sondern der mittlerweile auch Eingang in die klinische Psychologie gefunden hat.

Régis Loisels Serie stellt mehr als nur eine einfache Adaption von Barries Stoff dar; er interpretiert die Figur sachte um und reichert die Geschichte mit Charles Dickens’schen und sozialkritischen Motiven an, indem er gleichsam die Vorgeschichte zu Barries Storys erzählt und die Vita des Hauptprotagonisten, seine Beweg- und Abgründe in den Mittelpunkt stellt, das, was den kleinen Jungen dem tristen, grausamen und kalten London entfliehen lässt. Allerdings ist die Welt, die Peter dann betritt und erkundet, nicht weniger gefährlich, wobei Hook nur ein bedrohliches Element darstellt. Im Gegensatz zur Welt der Londoner Erwachsenen relativeren aber Freundschaft und emotionale Wärme hier die Gefahren.

Dennoch sind die Figuren Loisels weit entfernt davon, niedlich oder lustig zu sei, auch wenn oft ein komischer Unterton mitschwingt und die Charaktere zuweilen putzig wirken; und wer bei Peter Pan an Walt Disney oder Robin Williams denkt, wird zumindest überrascht werden. Peter ist hin und her gerissen zwischen kindlicher Neugier – im wörtlichen Sinne –, Übermut und Zorn, während der skrupel- und gnadenlose, grausame Hook durchaus charmant aufzutreten weiß, obwohl Spaß nicht zu seinem Repertoire an Gefühlen gehört.

Die Ambivalenz der Figuren spiegelt sich durchaus im Artwork wider: irritierend sind zunächst die mit ihren schmalen, schräg gestellten Augen asiatisch erscheinenden Gesichtszüge der Helden; zudem sind Mimiken und Proportionen nicht nur deutlich bis ins Karikaturhafte überzeichnet, sondern erteilen dem, was wohl die Mehrheit der Leserschaft als „klassisch schön“ bezeichnen würde, eine deutliche Absage. Der Gewinn liegt in einer bemerkenswerten Individualität und Persönlichkeit der Charaktere. Hintergrund und Ambiente sind – wie die Figuren – von Loisel mit schwungvollen, leicht skizzierenden Strich gestaltet und im Wesentlichen in natürlichen weichen Farben koloriert. In Verbindung mit dem dynamischen Bild- und Seitenaufbau erwächst daraus visuell eine intensive, zwischen märchenhaft und beklemmend spielende Atmosphäre.

Fazit: Eine originelle und fesselnde Interpretation von Figuren und Hintergrund, die trotz der ihrer Nähe zu Barrie und Dickens und des auch visuell märchenhaften Grundtenors alleine wegen der fast schon beiläufigen Brutalität und Gewalt weniger für Kinder denn für reifere Leser geeignet ist. Sehr empfehlenswert!