Lucie Whitehouse: Komm doch näher (Buch)

Lucie Whitehouse
Komm doch näher
(Keep you close, 2016)
Übersetzung: Anke Angela Grube und Elvira Willems
Berlin, 2017, Paperback, 476 Seiten, 12,99 EUR, ISBN 978-3-8333-1086-7 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Irene Salzmann

Rowans Mutter starb, als das Mädchen noch sehr klein war. Der Vater fühlte sich von der Situation überfordert, stürzte sich in seine Arbeit und überließ die Tochter praktisch sich selbst. Als Rowan ihre Mitschülerin Marianne näher kennenlernt, werden die beiden schnell beste Freundinnen - und plötzlich hat Rowan die Familie, die sie sich immer ersehnte, denn für Seb, Jacqueline und Adam ist sie wie eine zweite Tochter beziehungsweise Schwester.

 

Dieses Idyll droht über Sebs ständigen Affären zu zerbrechen. An seinem 50. Geburtstag - die Mädchen haben gerade erfolgreich die Schule beendet und sich fürs College beworben -, bringt er seine Geliebte mit nach Hause und bricht damit ein Tabu. Jacqueline soll ihrem sich in der Midlife Crisis befindlichen Mann ihren Segen geben, weil er sich ein neues Leben aufbauen will, aber diese Demütigung kann sie nicht hinnehmen.

Rowan und Marianne ist klar, dass es Seb mit Laura ernst ist, und beide hassen die Zerstörerin ihrer Familie aus tiefstem Herzen. Wenig später ereignet sich auf dem Hausboot, auf dem Laura lebt, eine Gasexplosion, bei der die junge Frau ums Leben kommt. Seb ertränkt seinen Kummer im Alkohol, baut betrunken einen Autounfall und stirbt ebenfalls. Marianne schottet sich ab, will niemanden, nicht einmal Rowan, sehen. Die Wege der beiden trennen sich.

Zehn Jahre später erreicht ein Anruf Rowan: Marianne ist tot. Sie, die unter Höhenangst litt, ist vom Dach ihres Hauses gestürzt. Einen Tag später erhält Rowan eine Karte von Marianne mit der Bitte um ein Gespräch. Auf der Beerdigung sieht Rowan all die Menschen wieder, die einst ihre und Mariannes Freunde gewesen waren. Um Jacqueline einen Gefallen zu tun, hütet Rowan das Haus der Verstorbenen und beginnt, Nachforschungen anzustellen. War Mariannes Tod wirklich ein Unfall oder ein Suizid? Der Maler Michael Cory, mit dem sie zuletzt sehr gut befreundet war, vermutet, dass jemand nachgeholfen hat, auch wenn es keine entsprechenden Spuren gibt.

Er wollte und will Marianne immer noch malen und nimmt Kontakt zu Rowan auf, um über das Umfeld der Toten seine Bekannte besser erfassen zu können. Zwar kooperiert Rowan, ärgert sich aber zugleich über sein beharrliches Vorgehen, da sie nicht möchte, dass Jacqueline und Adam noch mehr leiden, indem womöglich ein altes Geheimnis aufgedeckt wird. Aufgrund seiner Schnüffelei kommt Michael der Wahrheit gefährlich nah und zwingt dadurch Rowan zum Handeln…


Es dauert eine ganze Weile, bis man so richtig Fuß fasst in „Komm doch näher“. Die Handlung beginnt mit der Nachricht von Mariannes Tod, woraufhin Rowan an jenen Ort zurückkehrt, an dem sie bis vor zehn Jahren sehr glücklich war. Ein tragisches Ereignis beendete diese Zeit: Alle glaubten, dass sich Marianne den Tod ihres Vaters sehr zu Herzen nahm und verübeln es Rowan immer noch, dass sie damals ihre beste Freundin im Stich ließ.

Rowan trifft sich mit den einstigen Bekannten und stellt Fragen, doch keiner weiß, warum Marianne sich mit ihr hatte aussprechen wollen und weshalb sie auf das Dach gestiegen war. Jeder war davon überzeugt, dass sie ihren Zusammenbruch überwunden hatte und ein glückliches Leben führte, denn es gab einen Mann an ihrer Seite, und als Malerin war sie außerordentlich erfolgreich. Während Rowan nachzuvollziehen versucht, wie Marianne die letzten Jahre gelebt hat, wird in Rückblenden aufgerollt, wie sich die beiden vor Jahren anfreundeten, wie sehr Rowan die Zuneigung schätzte, die Mariannes Familie ihr entgegenbrachte, wie dieses Glück mit Sebs Tod ein jähes Ende nahm, und was die Hintergründe davon waren. Auch die Beziehungen zu Außenstehenden werden beleuchtet.

Obwohl die Geschehnisse aus Rowans Perspektive in der dritten Person geschildert werden, wird man nicht recht warm mit der Protagonistin. Man nimmt zwar Anteil, wenn sie um die Freundin und das verlorene Glück trauert, wenn sie sich vor Unbekannten fürchtet, die sie offenbar beobachten, wenn sie von ihren früheren Freunden enttäuscht beziehungsweise beleidigt wird, aber es bleibt stets eine Distanz zwischen ihr und dem Leser. Tatsächlich merkt man zunächst gar nicht, dass Rowan, wenn sie etwas für andere tut oder sich um diese sorgt, dabei auch immer an sich selbst denkt. Lucie Whitehouse hält den Egoismus ihrer Figur, obschon sie ihn nicht verbirgt, bedeckt, indem sie es so dreht, dass sich Stück für Stück der Eindruck verschärft, der Bruch der Freundschaft wäre allein von Marianne ausgegangen und dass es ein dunkles Geheimnis gibt, welches allein Rowan kennt und bewahrt, um die Freundin und ihre Angehörigen zu schützen. Was wirklich vor zehn Jahren passiert ist, wird vorsichtig angedeutet, jedoch als falsche Fährte angelegt. Erst sehr spät enthüllt die Autorin die Wahrheit und taucht dadurch Vieles in ein neues Licht. Nun ergibt auch die Distanziertheit einen Sinn, und der Kreis zum Prolog schließt sich.

Hat man sich durch den etwas schwerfälligen, stellenweise auch langatmigen Beginn gekämpft, so stellt man nach einer Weile erfreut fest, dass die Handlung plötzlich interessant ist. Es darf reichlich spekuliert werden, aber man tappt lang im Dunkeln und begreift eigentlich erst zusammen mit Michael Cory, was wirklich los ist. Und am Schluss gibt es noch eine Überraschung, denn das Geheimnis wäre wohl nie aufgedeckt worden ohne eine weitere Tragödie, die mit den Ereignissen von einst nicht wirklich etwas zu tun hat.

Diese unerwarteten Verwicklungen, die ganz langsam aufgelöst werden, und die geschickte Charakterisierung der Figuren, die oft anders sind, als es den Anschein hat, sind das große Plus von „Komm doch näher“ und machen den Titel zu einer spannenden Lektüre.