Wonder Woman: Erde Eins 1 (Comic)

Grant Morrison
Wonder Woman: Erde Eins 1
(Wonder Woman: Earth One TPB 1, 2016)
Übersetzung: Ralph Kruhm
Titelbild und Zeichnungen: Yanick Paquette
Panini, 2016, Paperback, 132 Seiten, 16,99 EUR, ISBN 978-3-7416-0028-9 (auch als Hardcover erhältlich, 25,00 EUR)

Rezension von Irene Salzmann

Vor einigen Jahrzehnten entschied sich DC, das unübersichtlich gewordene Superhelden-Universum zu novellieren und allen Helden einen Neustart zu ermöglichen, dabei ihrem Werdegang aus zeitgenössischer Sicht zu folgen. Das Bisherige und auch die zahlreichen Parallelwelten wurden als „Elseworlds-Stories“ abgehakt. Was DC allerdings nicht davon abhielt, neuerliche Reboots folgen zu lassen und wieder Abenteuer auf Parallelerden anzusiedeln, um eine andere mögliche Entwicklung der jeweiligen Charaktere zu schildern, die als äußerst reizvoll befunden wurde.

„Wonder Woman: Erde Eins“ 1 ist ein solches Parallelwelt-Abenteuer, wie es zuvor bereits Superman und Batman erleben durften. Als Autor konnten Grant Morrison („Batman: Legends of the Dark Knight“, „Justice League of America“, „WildC.A.T.s“), als Illustrator Yanick Paquette („Civil War: X-Men“, „Swamp Thing“, „Wonder Woman“) und als Kolorist Nathan Fairbairn („Batman Incorporated“, „Superman“, „All-New Wolverine“) gewonnen werden.


Vor vielen Jahrhunderten versuchte der Halbgott Herkules, Hippolyta, die Königin der Amazonen, seinem Willen zu unterwerfen und sie zu schänden. Eine einzige Chance blieb ihr, die sie nutzte, um sich und alle Frauen zu retten, die sich in der Gewalt von Herkules und seinen Männern befanden. Nachdem die Feinde besiegt waren, zogen sich die Amazonen auf die Paradiesinsel zurück, auf der es keine Männer gibt und die von der restlichen Welt durch Magie abgeschirmt ist. Die Geschehnisse auf der Erde, die Hippolyta durch einen Spiegel verfolgt, scheinen ihr Recht zu geben, dass dies eine weise Entscheidung war.

Ihre Tochter Diana hingegen fühlt sich eingesperrt auf der Paradiesinsel, auf der es für sie keine Herausforderungen gibt. Als ein aus Ton geschaffenes und belebtes Wesen einer nahezu unsterblichen Mutter ist sie die ewige Prinzessin, der von der Königin und den Mentorinnen vorgeschrieben wird, was sie tun und lassen soll, die bestimmte Dinge nicht erfahren darf und der es aufgrund ihrer überlegenen Kräfte nicht einmal erlaubt ist, an den Wettspielen teilzunehmen.

Dann passiert etwas, das als unmöglich galt: Diana findet am Strand einen verletzten Mann. Sie weiß, dass ihre Schwestern Steve Trevor sofort töten würden, wenn sie von seiner Anwesenheit erführen, denn Männer dürfen die Paradiesinsel nicht betreten. Diana verbirgt ihren Schützling, kann seine Wunden jedoch nicht heilen. Prompt setzt sie sich über die Befehle ihrer Mutter hinweg, nimmt an den Spielen teil und besiegt den Champion Mala, ihre eigene Liebste. Als Preis fordert sie Malas Schwanen-Gleiter und bekommt ihn von der zornigen Königin zugesprochen, die ahnt, dass etwas faul ist.
Mit dem Fluggefährt bringt Diana Steve in seine Welt zurück und in ein Krankenhaus. Ihr Auftauchen versetzt die Menschen in Erstaunen und ruft das Militär auf den Plan. Es kommt aber noch schlimmer, denn Hippolyta sendet ein Monster aus, um den Mann zu bestrafen, der ihre Tochter zu einem zweiten Verbrechen, nämlich dem Besuch der Außenwelt, ‚verführt‘ hat. Einige Schwestern entdecken Dianas Aufenthaltsort und sollen sie zurückbringen, damit ihr der Prozess gemacht wird. Diana folgt ihnen freiwillig…


Die Geschichte beginnt mit dem Prozess, den die Moiren überwachen und der mit Hilfe des ‚Lassos der Wahrheit‘ Dianas Beweggründe, die Gesetze und Traditionen zu brechen, ans Licht bringen soll. In Rückblenden und aus den Berichten anderer Beteiligter erfährt man, dass sich die Titelheldin praktisch schon immer gefangen, perspektivlos und darum unzufrieden fühlte. Sie rebelliert wie ein Teenager, der seine Grenzen austestet und an der Schwelle zur Erwachsenen angemessene Aufgaben und Verantwortung übernehmen möchte, statt immer nur als Prinzessin gehätschelt zu werden.

Als Steve Trevor, ein Pilot des US-Militärs, über der Paradiesinsel abstürzt, wird Diana vor die Wahl gestellt: Sie kann den Mann ihren Schwestern ausliefern, die ihn gemäß der Gesetze töten würden, obwohl er kein anderes Verbrechen begangen hat, als den magischen Schirm zu durchbrechen und ihr Land zu betreten. Oder sie rettet ihn, weil sie an der Richtigkeit des Gesetzes zweifelt. Aber sie ist auch neugierig, denn sie hat nie zuvor einen Mann gesehen (witzig-naive Szene), und was in der Außenwelt vor sich geht, wird durch Hippolyta von ihr ferngehalten. Langsam keimt die Frage in ihr, ob die selbstgewählte Isolation wirklich richtig ist und ob die Amazonen nicht die Pflicht haben, allen Frauen zu helfen und das von der patriarchalischen Gesellschaft verursachte Elend mit friedlichen Mitteln zu bekämpfen.

Diana muss sich selbst davon überzeugen, was richtig und falsch ist, darum verstößt sie erneut gegen Gesetze und Gebote, um die Wahrheit zu erfahren. Schnell lernt sie, dass die Frauen in der übrigen Welt mutig sind und Unterstützung brauchen, dass nicht alle Männer schlecht sind und es wichtige Aufgaben für sie und - wenn sie es wollen - die anderen Amazonen gibt.

Das Verhalten von Hippolyta bestärkt Diana in ihrem Glaube, denn die Königin bricht selbst die Regeln, indem sie erst ein Monster und dann ihre Garde aussendet, sodass die Paradiesinsel nicht länger ein Mythos beziehungsweise eine physikalische Anomalie ist, sondern etwas Reales, für das sich das Militär interessiert. Aber da ist noch mehr, und letztendlich muss auch Hippolyta vor Gericht die Wahrheit sagen.

Man hat durchaus Verständnis für die Amazonen, denen von den Männern Gewalt angetan wurde, die sich erfolgreich gewehrt haben und sich nach ihren schrecklichen Erfahrungen nie wieder einem Unterdrücker unterwerfen wollten, sondern lieber ins Exil gingen und sich für die sapphische Liebe entschieden. Magie hält sie jung und schenkt ihnen ein langes Leben, sodass Kinder kein Thema sind.

Bei Diana ist das anders, und das liegt nicht nur an daran, dass sie damals noch nicht geboren war. Sie ist anders, doch die Geheimnisse werden erst am Schluss enthüllt, und dem möchte man nicht vorgreifen. Da sie frei ist vom Ballast der Erinnerung, von der Angst vor und dem Hass auf Männer, sieht sie Vieles aus einem unbeeinflussten Blickwinkel und versteht die Beschränkungen nicht, die ihr auferlegt werden, denn nachvollziehbare Gründe werden nie genannt.

Diana entwickelt sich durch ein einschneidendes Geschehnis vom (ewigen) Teenager zur jungen Frau, die die Traditionen hinterfragt und für sich eine Aufgabe sucht, die es auf der Paradiesinsel für die behütete Prinzessin nicht gibt. Sie macht gänzlich neue Erfahrungen, durch die sie sich bestätigt sieht und Argumente sammelt, mit denen sie ihre Mutter konfrontieren und von ihr die Wahrheit fordern kann - und vielleicht ein Umdenken, denn Verleugnung und Isolation bewirken keine Veränderung, erst recht keine Verbesserung.

Die Zeichnungen entsprechen nicht ganz dem, was man von Superhelden gewohnt ist. Zwar sind die Charaktere realistisch-idealistisch gezeichnet, aber in einer dem Jugendstil angelehnten Art, die vor allem dann überzeugt, wenn antik anmutende Gebäude, Gewänder aus mit Blumen und Tieren bestickten Stoffen, Tattoos mit ähnlichen Motiven und so weiter detailreich die Hintergründe zieren. Die Umrisslinien sind stark betont, Schattierungen selten.

Die Gesichter und Körper der Frauen sind durchgehend attraktiv, aber einander sehr ähnlich mit einer begrenzten Mimik und Gestik. Das ist allerdings nicht ungewöhnlich, denn so ziemlich jeder Illustrator hat ‚seine‘ Gesichter. Die Frauen gefallen, aber die Amazonen wirken leider auch sehr arrogant, teils durch ihre Körperhaltung, teils durch ihre Sprache.

Die Kolorierung ist etwas einfacher und setzt weniger auf Verlaufsfarben als derzeit üblich. Blau ist noch Blau, Rot noch Rot und so weiter, aber das passt auch besser zum ‚Jugendstil‘, bei dem die klaren Linien und die romantischen Motive das Wesentliche sind.

Auszüge aus dem „Sketchbook“ runden ab: Skizzen, getuschte und kolorierte Zeichnungen, diverse Entwürfe etc. Informationen zu den Künstlern setzen danach den Schlusspunkt.

„Wonder Woman: Erde Eins“ 1 ist tatsächlich eine sehr interessante Alternativ-Version der Titelheldin, in der genauso glaubwürdig die Motive der Amazonen geschildert werden, weshalb sie ihr bisheriges Leben aufgegeben haben, wie Dianas Rastlosigkeit, die zu der Erkenntnis führt, dass sie in der Isolation ihren noch immer unterdrückten Schwestern, ja, der ganzen Menschheit nicht helfen können, ein friedliches, zufriedenes Leben zu führen.

Diana ist anders, und sie sorgt für Veränderungen. Da die scheinbar in sich abgeschlossene Story die Nr. 1 trägt, darf mit weiteren Episoden gerechnet werden, denn die Außenwelt ist ein neues Terrain, in dem Diana Freunde und Feinde finden wird, dessen Regeln sie noch nicht kennt - und sie muss sich auch erst einen Namen als Wonder Woman machen (so nannte sie bislang nur Steve).

Hat man an diesem Band Gefallen gefunden, weil man Inhalt und optische Umsetzung mag, wird man gespannt auf eine ähnlich ansprechende Fortsetzung hoffen.