Christoph Marzi: London (Buch)

Christoph Marzi
London
Titelbild: Ann-Kathrin Hahn
Heyne, 2016, Paperback mit Klappenbroschur, 704 Seiten, 14,99 EUR, ISBN 978-3-453-31665-2 (auch als eBook erhältlich)

Rezension von Carsten Kuhr

Das Glück ist endlich, das musste auch Emily Laing schmerzhaft feststellen. Nachdem sie die uralten Metropolen kennen und lieben gelernt, nachdem sie ihr Erbe als Trickser angetreten, ihre Schwester gerettet und den Engelskrieg überlebt hatte, wollte sie eigentlich nur ein ganz normales Leben führen. Zusammen mit ihrer großen Liebe eröffnete sie in New York eine Buchhandlung, wurde schwanger - und sie lebten bis an ihr Ende in Glück und Harmonie. Doch in der Wirklichkeit kam dann alles anders. Erst verlor sie das Ungeborene, dann, nach und nach, die Liebe ihres Mannes. Sie kehrte nach London zurück, versuchte mit ihrer Gabe Kindern zu helfen und ihr Leben neu einzurichten. Der Schmerz aber blieb ein Teil ihrer selbst.

Dann eines Tages beginnt es. Bei einem Auftrag in Cambridge stellt sie bei der Rückfahrt fest, dass niemand je von einer Stadt namens London gehört hat. Oxford ist die Hauptstadt des Empire, alle Versuche einen Ort namens London zu finden, sei es in Büchern, auf Landkarten oder Fahrplänen, scheitert. Zwei alte Damen sorgen dann dafür, dass Emily die Heimkehr nach London doch noch gelingt. Bald aber offenbaren sich, nun nennen wir es, Merkwürdigkeiten.

Underground-Züge verschwinden während der Fahrt zusammen mit den Passagieren spurlos, die Regentin ist unauffindbar, einst schmerzlich betrauerte Tote sind putzmunter, der Duke hat die Verwaltung der Stadt an sich gerissen und die Zugänge zur Hölle sind versiegelt. Immer wieder verschwinden ganze Teilorte Londons, Straßen und Bahnlinien enden im Nichts.

Als Emily eine junge Waise kennenlernt und sich dieser annimmt, geraten die Dinge dann so richtig ins Rollen. Das Kind weiß nicht wer es ist, noch wo es herkommt. Als es verschwindet aber scheint halb London auf der Suche nach ihm zu sein. Werwölfe, die Stillen die Lord Silence aussendet und ein unheimlicher Mann mit aufgemalten Augen und Mund sind ebenso hinter dem Kind her, wie der Duke und Wittgenstein. Zusammen mit diesem macht Emily sich auf, der Spur, die in die Hölle führt, zu folgen…


Es war ein wenig still geworden um Emily Laing und die uralten Metropolen. Nachdem der Autor uns in bislang fünf Romanen seine ergreifende Schöpfung vorgestellt hat, die seine Liebe zu den beschrieben Städten vermittelten und dabei auf tiefgründige, nie aufgesetzt wirkende Art uns eine ganz selbständige Imagination vorstellte, war die Geschichte erzählt und in sich stimmig abgeschlossen. Jetzt, Jahre später, meldete sich Emily wieder, und so kehrte der Autor in seine ergreifendste Schöpfung zurück.

Mühelos tauchen wir wieder in die ganz besondere Atmosphäre der Romane ein. Als hätte es die Zäsur nie gegeben fahren wir mit der Tube quer durch London, atmen, besser fühlen die besondere Atmosphäre der Stadt an den Themse.

Marzis Romane zeichneten sich immer durch seine ganz besondere Fähigkeit aus, uns seine Gestalten plastisch beschreibbar zu machen. Im Verlauf der Ereignisse sind uns diese ans Herz gewachsen, ja haben sie dieses erobert. Das alles sind Figuren voller Ecken und Kanten, Helden zwar, aber nicht im herkömmlichen Sinn. Sie sind ängstlich, werden von Albträumen heimgesucht, stellen sich aber nichtsdestotrotz den Gefahren, weil sie sich dafür entscheiden, ihre Verantwortung anzunehmen.

Wie kaum ein anderer Autor - hier kommt mir eigentlich nur Kai Meyer in den Sinn - unterfüttert Marzi seinen atmosphärisch unheimlich dichten Plot immer mit Tiefe. Hier geht es darum, dass zum Leben auch immer Verlust gehört, dass sich Öffnen, die Hingabe und Liebe, immer auch die Möglichkeit in sich birgt, dass man innerlich verletzt wird, dass das Scheitern einer Beziehung schmerzt und einen prägt. Allen tröstend gemeinten Worten zum Trotz schmerzen solche Verletzungen dauerhaft, wird man sie nie los - eine Wahrheit, die Marzi einfühlsam und überzeugend in seine Handlung integriert.

Dabei sind seine Romane nie bedrückend sondern zeigen uns immer Menschen, die mit ihren Problemen, mit ihren Verlusten und Verletzungen umgehen, sie verarbeiten und an diesen reifen.

Neben der einfühlsam aufgebauten Liebesgeschichte über und an London sind es diese fast poetisch zu nennenden Darstellungen der Figuren, die uns weit abseits der letztlich oftmals flachen vordergründigen Action an die Seiten fesseln. Dabei passiert durchaus viel, ja dramatisches im Roman. Wir besuchen die Hölle, werden von Werwölfen und mechanisch aufgerüsteten Menschen gejagt, werden gefangengesetzt, vergiftet und missbraucht. Doch all diese packenden Szenen sind nie Selbstzweck, sondern dienen nur dazu, uns das Verhalten der Protagonisten verständlich und nachvollziehbar zu machen.

So ist auch dieses Buch wieder ein Paradebeispiel dafür, wie gute, eigenständige ja herausragende Phantastik aussieht und ein Lese-Erlebnis der besonderen Art!